Mein Fenster zur Welt. Tag 100, letzter Tag.

Es gibt nur noch ab und an, ganz vereinzelt, Klatscher auf den Balkonen. Sie hören sich selbst applaudieren in der warmen Juninacht. Heikel, der Übergang vom Gemeinschaftsglück zum peinlichen Moment. Die Infektionszahlen sind unten. Alles normal. Ist überhaupt noch Pandemie? War irgendetwas?
Wir haben weiter still in einer verlangsamten Parallelwelt gelebt, während Fitnesscenter längst geöffnet sind, VW wieder produziert, die Lufthansa fliegt, während Schweinebetriebe schlachten und Spielhallen Geld verdienen. Erst heute endet nämlich ein Schulhalbjahr, in dem das kleine Kind innerhalb von vier Monaten genau fünf Schulstunden Präsenzunterricht hatte, nicht zum Rudern ging und nicht in die Jugendgruppe. Heute endet diese Zeit und sechs Sommerwochen ohne Schule, ohne Sport, ohne Jugendgruppe liegen vor uns. Ein Kinderspiel, 42 Tage. Ein Witz gewissermaßen.

100 Tage lang drei Mahlzeiten täglich, ich habe gearbeitet und – wie die allermeisten Mütter – Homeschooling unterstützt, begleitet und verflucht, motiviert und korrigiert, die Stimmung hochgehalten und die Kinder bei Laune. Das ist mir nicht alles gleichermaßen gut gelungen. Aber wie schwierig ist es erst, mitten in der Pubertät monatelang auf seine Mutter als einziges soziales Gegenüber angewiesen zu sein und trotzdem munter jeden Tag vor dem Bildschirm zu sitzen und irgendwie mit Spaß Hausaufgaben von einer Plattform herunter- und bearbeitete Dateien hochzuladen?

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Mein Fenster zur Welt. Tag 29

Aleš Šteger, slowenischer Dichter, Autor und Verleger, schaute gestern im FAZ-Feuilleton aus seinem »Fenster zur Welt« in Ljubljana. Ein schöner Text, der die wechselvolle Geschichte eines Hotels auf der anderen Straßenseite erzählt. Nun ist es seit Wochen geschlossen, das so abwechslungsreiche wie ablenkende Fenstertheater der Hotelzimmer gegenüber beendet und der Autor in der ereignislosen Spiegelung der Glasfassade auf der anderen Straßenseite dem Blick auf sich selbst ausgesetzt.
Leuchtender Sonnenschein, gleißend helle Nachmittage wie am Meer sind das Signum der Epidemie. Ich schaue aus meinem Fenster zur Welt und blicke auf das sonnige Fenstertheater gegenüber und als Vexierbild hineingelegt die Spiegelung meines eigenen Fensters, hinter dem ich mich und meinen Nachbarn unter mir sehe. Wir alle vor und hinter diesen Fenstern sind Eingeborene, wie Aleš Šteger schreibt. Wir sind Akteure und Zuschauer, Spiegelbild und Schreckensmaske kleiner Alltage vor und während der Krise. Mich beschäftigt ein Gedanke aus seinem Text: (wir,) die wir in unseren Wohnungen gefangen auf das Weiterleben nach dem Ende des Nachdenkens warten. Es ist nicht leicht, dem eigenen Blick auf sich selbst und die eigene Misere standzuhalten, es ist viel schwieriger, als wir es uns anfangs beschönigend vorgestellt haben.
Ist es tatsächlich so? Warten wir nur gefangen auf das Weiterleben danach? Ist die Begegnung mit der eigenen Misere wirklich die Erfahrung, die erst die Pandemie in dieser Intensität ermöglicht? Soziales Leben ausgesetzt, Aktivitäten angehalten. Die äußere Welt steht still und wir finden uns in dem kleinen Radius wieder, den wir selbst gestalten. Bei meiner seit Jahren praktizierten häuslichen Lebensführung (siehe hierzu gern: Tag 18) gab es keine Misere zu beschönigen. Sie war schon ausgelotet, als die Kontaktsperre begann. Ich bin eine Eingeborene der Misere. Während ich am Schreibtisch sitze und aus dem Fenster schaue, fasse ich eine kleine Beobachtung am Schlafittchen, denn an ihr nehme ich wahr, dass wir nicht nur vage warten, sondern in der Misere noch ein gutes Leben wagen. Apropos warten: Auf den Anruf des FAZ-Redakteurs warte ich natürlich immer noch.

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Mein Fenster zur Welt. Tag 18

Kreativität liege nicht nicht auf dem Marktplatz, stand am Samstag in der Zeitung. Fehlende Zerstreuung habe also auch etwas Gutes. Oha, denke ich und blicke aus meinem Fenster zur Welt. Es braucht eine Corona-Krise, damit ein Leitartikler auf die Idee kommt, Konzentration und einsame Beharrlichkeit seien Voraussetzungen für kreatives Tun.
Mit den warmen Apriltagen beginnt das dreizehnte Frühjahr, das ich durch dieses Fenster sich entfalten sehen kann. Zum ersten Mal in all den Jahren sehe ich Eltern mit ihren Kindern auf dem Bürgersteig abhängen. Mit Kreide malen, Laufrad üben. Auf Treppenstufen sitzen. Gummibärchen futtern. Erst seit die Spielplätze als umzäuntes Freizeitvergnügen gesperrt sind und die Cafés geschlossen, wo Aufenthalt an Konsum gekoppelt ist, wird der städtische Raum als ein Ort wiederentdeckt, an dem man leben kann – nicht nur eilig nutzen, sondern eben auch einfach sein. Statt des Autolärms auf der Fahrbahn herrscht Lebhaftigkeit auf dem Trottoir. Gilt das schon als gute Nachricht unter den vielen schlechten?

Der dreizehnte Frühling in dieser Wohnung und der zwölfte, seit ich alleinerziehend bin. Rückblickend könnte man sagen, dass jede Woche, jeder Monat, all die Jahre mit kleinen Kindern zuhause im Grunde eine ausgezeichnete Vorbereitung auf eine Pandemie waren. Und obendrein: häusliche Konzentration – check. Einsame Beharrlichkeit – check. Beides mag jene Kreativität fördern, die gerade von vielen neu entdeckt und gefeiert wird. Ich kann allerdings aus langjähriger Kontaktsperre heraus berichten, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Die andere heißt Mammon. Es braucht Penunze, um ein Eis zu essen, Knete zum Besänftigen der Albträume, Piepen für die Krankenversicherung, Kies für Strom, Bimbes für die Musikschule. Wer Angst hat, ist nicht kreativ. Dies nur als freundliche Ergänzung zu dem schönen Leitartikel, weil ich gerade dafür Zeit habe und natürlich für »Mein Fenster zur Welt«, den Text, den die FAZ bestimmt noch vor Ostern anfragen wird:

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Mein Fenster zur Welt. Tag 10

Zwischen mir und meinem Fenster zur Welt steht die kleine Messingfigur eines Torwartes. Kein moderner Profi-Sportler, sondern ein eher schmächtiger Kerl mit Ballonmütze, im ausgeleierten Strickpolo, mit knielangen Hosen und breiten Schnürschuhen. Seine Gestalt erinnert an Figuren von Erich Kästner oder Typen beim jungen Brecht. Späte zwanziger Jahre vermute ich. Etwas Lässiges, Städtisches trennt ihn vom gesunden Sportsmenschen, der in der Historie wenig später kommen wird. Sein drahtiger Körper ist gestreckt bis in die kleinste Faser. Von den Fußspitzen bis zu den hoch gereckten Armen bildet er eine gespannte Diagonale im Raum, die Hände fest um den Ball, den er nicht auf ewig aus dem Spiel wird halten können, für diesen einen Augenblick aber auf immer abwehrt. Der einsame Mann hat keine Angst, er springt dazwischen, er ist es, der die bedrohlichen Torschüsse hält, die Angriffe aus dem Lauf, die schellen Pässe, die unerwarteten Fallrückzieher, die die Welt in meine Richtung auflegt.

An einem Morgen im letzten Sommer saß ich unten auf meiner Bürgersteigseite vor der Eisdiele. Eine Nachbarin nahm neben mir auf der Bank Platz. Das darf sie, ist ja schließlich auch ihre Bürgersteigseite. Wir gucken also gemeinsam auf das Haus gegenüber, in dem justament eine Frau ein Fenster öffnet. Von meiner Nachbarin höre ich, weil Gelegenheit günstig, dass diese Frau von ihrem Esstisch aus einen Blog betreibt. Sie schreibt mit sehr großem finanziellen Erfolg über Kinder, Gefühle und Mütter. Werbeeinnahmen, Influencerhonorare, eins kommt zum anderen, quasi Wochenendhaus nebenbei, weiß meine Nachbarin zu erzählen. Natürlich habe ich später gegoogelt und gelesen, was es dort zu lesen gibt. Nicht meine Tasse Tee. Nun ist die Welt aber voller Dinge, die mich nicht berühren, die in einer anderen Sphäre zirkulieren und meine Meinung nicht brauchen.
Doch fällt seit jenem Morgen vom Schreibtisch aus mein Blick oft auf das Fenster, hinter dem die erfolgreiche Bloggerin sitzt, und mein Herz findet keinen Frieden mehr. Ich schelte mich kleinmütig, während meine Arroganz noch groß genug ist, die Texte abzutun. Ich weiß, dass die Erfolglosigkeit mich schäbig macht. Oft vergesse ich die Influencerin ganz, dann schaue ich auf und der Neid sticht wie am ersten Tag. Sie holt das Schlechteste in mir hervor. Ihre Torschüsse sind auf Messi-Niveau.

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Mein Fenster zur Welt. Tag 8

Sonntag in der Kontaktsperre.
Steht die Zeit seit einer Woche still oder rinnt sie in einem geheimen Abflussrohr einfach weg? Hat sie sich zusammen mit der Ordnung der Tage auf die Ersatzbank am Spielfeldrand gesetzt? Am leeren Schreibtisch, den Blick auf der gegenüberliegenden Häuserreihe, spüre ich, dass mit jedem Tag der Krise etwas von der Unruhe schwindet, die mich lähmte und zugleich unter Hochspannung hielt. Das Hündchen Angst scharwenzelt natürlich noch herum, aber ich lasse es nicht auf den Schoß springen.
Gewohnheitstierchen sind wir, meine Kinder und ich: gewöhnen uns an die Folge der Sonnentage, lassen uns in Ungewissheit treiben, schwimmen mit dem Strom leiser Stunden. Dabei gibt es doch einen Zeiger, an dem ich mich festhalten kann. Direkt vor meinen Augen hängt er unbewegt: 1901. Vier goldene Ziffern markieren das Jahr, in dem das Haus gegenüber – wie fast alle Häuser hier – gebaut wurde. Wie oft habe ich diese Zahl schon gesehen und erst jetzt finde ich die Zeit, eine Vorstellung davon entstehen zu lassen, wo die Geschichte, die seitdem um die Ecken geflitzt ist und keineswegs verschwunden, geblieben ist.
Schaut man aufmerksam, sieht man an den Fassaden noch an manchen Stellen die Befestigungen für die Oberleitung der Straßenbahn, die vor 120 Jahren hier durchfuhr, und die boomende Wohngegend mit der Innenstadt verband. Eine Postkarte von 1901 zeigt ausladende Stoffmarkisen vor den Ladengeschäften und die Balkone sind abgehängt mit hellen Leinenstoffen, wie sie heute in Beirut oder Istanbul die Hitze aus den Wohnungen fernhalten. In Istanbul war 1901 wieder die Pest ausgebrochen, die Stadt unter Quarantäne gestellt und im Hamburger Hafen wurden keine Waren aus Odessa und Istanbul gelöscht, weil mit der Ladung Ratten an Land kamen. Im Oktober feierte das politische Berlin mit großem Pomp den 80. Geburtstag von Rudolf Virchow.
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Mein Fenster zur Welt. Tag 5

In der Krise besinnt sich auch das Feuilleton auf Bewährtes. So lädt die FAZ unter dem Titel »Mein Fenster zur Welt« AutorInnen zur Weltbetrachtung ein – in Zeiten der beschränkten Bewegung eben aus dem Fenster. Mich hat die Einladung bislang nicht erreicht, aber ich möchte präpariert sein für den Anruf aus Frankfurt.

Viele Menschen sitzen jetzt in Videokonferenzen, treffen sich in Clouds, chatten und mailen. Ich nicht. Niemand vermisst mich da draußen, niemand ruft an. In diesen Tagen besinnen sich Teams auf ihre kreative Stärke und setzen neue Kommunikationsprozesse auf. Ich gehöre zu keinem Team. Vor der Pandemie hatte ich Jobs. Mit etwas Glück – oder was immer es dafür brauchen wird – werde ich nach der Pandemie auch wieder Jobs haben. Solange aber schaue ich über den Schreibtisch hinweg aus dem Fenster und sehe die Häuserfassaden auf der anderen Straßenseite. Eine typisch städtische Situation, nur auf welcher Seite in dem Theater die Bühne ist und wo die Zuschauer sitzen, das ist nicht entschieden.

Ich sehe Altbauten der Jahrhundertwende, Balkone, dahinter großzügige Wohnungen, Schiebetüren zwischen Ess- und Wohnzimmer. Seit vielen Jahren schon ist dies mein Blick und abends, wenn die Zimmerbeleuchtungen eingeschaltet sind und ich hinüberschaue, was ich im Grunde nicht allzu oft tue, sehe ich manchmal Menschen an der gleichen Stelle in verschiedenen Stockwerken Schiebetüren schieben.
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Abenteuer Kreuzfahrtschiff

Kreuzfahrten liegen im Trend. Alle kreuzen im Mittelmeer, durch die Ostsee und zu den Perlen der Karibik.
Wir haben einen Tag lang ein Kreuzfahrtschiff im Hamburger Hafen erkundet. Das Logbuch eines Abenteuers.

»You like, ya?« Zögerlich öffnet das Kind die exotische Frucht. »Yes, you try please.« Die Kellner strahlen, nicken aufmunternd. Rambutan ist eine der häufigsten Obstsorten im Malaiischen Archipel. Deutsch sprechen sie nicht, die jungen Asiaten im Service und ihr Englischvorrat ist mit der nächsten Frage ausgeschöpft: »Red wine, weit wine?« Hurtig räumen sie leer gegessene Teller ab, flitzen, richten, lächeln, apportieren, gut gelaunt und unglaublich schnell.

Am frühen Vormittag sind wir an Bord des Schiffes am Kreuzfahrtterminal in Hamburg gegangen. Für ein paar Stunden  gehören wir dazu, zur Welt der Kreuzfahrer, zu den Familien, die in einer grauen Abfertigungshalle sich lange geduldet haben, um in den Bauch des Giganten befördert zu werden. Wir werden allerdings die Meere nicht befahren, wir folgen keiner Sehnsucht. Wir erkunden einen Tag lang ein Schiff am Pier. Um den Hals hängt die Bordkarte, das Sesamöffnedich für eine Reisewelt. Gewiss hatte ich Vorurteile. Mich zog nichts auf Kreuzfahrtschiffe, doch bitte: Soll jeder nach seiner Fasson froh werden dürfen. Meine Ablehnung war diffus, beschränkte sich auf eine grundsätzliche Abneigung gegen viele Menschen an einem Ort und allgemeine ästhetische Erwägungen. Doch nun gehe ich – gewissermaßen durch einen glücklichen Zufall – mit meinen beiden Kindern durch den gläsernen Finger auf eine Hochhausfassade zu, die an Ostberliner Riegelbebauung erinnert, und bin irgendwie gespannt. Ich mache schließlich etwas, was ich noch nie gemacht habe. Ein Abenteuer liegt vor mir, ich bin bereit. »Reden Sie sich einfach ein, Sie würden bleiben«, steht in Versalien auf meiner Bordkarte, die ich zusätzlich zum Band gut festhalte, denn sie ist das Pfand für meinen Reisepass, den ein asiatischer Uniformierter einbehalten hat. Ich folge in den nächsten Stunden diesem Vorschlag und stelle mir vor, wie es wäre an diesem Ort zu bleiben.

Neben der Rambutan hat das Kind begeistert eine ganze Reihe exotischer Früchte an den Buffets gejagt. Das andere Kind ertränkt auf seinem Teller cremefarbene Sachen in brauner Soße. Während wir in dem Restaurantbereich zu Mittag essen, umspült uns der Lärm Hunderter Menschen, die unentwegt in Bewegung sind. Künstliche Säulen, Natur suggerierende Dekorationselemente aus Plastik und farbige Raumteiler springen uns an. Kunstlicht schiebt das diffuse Tageslicht an den Bildrand. Menschenschlangen ziehen an Platten vorbei. Eine Überfülle an Fisch, Gemüse, Fleisch, Salaten, Süßspeisen. Wein und Bier seien bei Tisch inbegriffen, wurde uns gesagt. In anderen Bordrestaurants geht der Alkohol extra, deshalb bleiben sie hier lange sitzen und betrinken sich ausgiebig umsonst, die Menschen, die an Land normale Nachbarn sind, weiße Familien, ältere Paare.

Während in der Halle, in die eine kleine gotische Kathedrale passen würde ohne zu stören, ein High-Tech-Laser-Show abgespielt wird, bekommen alle Popcorn und sämigen Fruchtsaft. Draußen scheint hell die Sonne, die gegitterten Fensterflächen jedoch sind von Rollos abgeschirmt. Farbige Lichtkegel sausen um Kurven, Rosa leuchtet es im Fahrstuhl, Blau in den Gängen, Lila über den Reihen blinkender Glückspielautomaten. Popmusik mit hochfrequenten bpm läuft in allen Public spaces. Unentrinnbar. Wir sind noch keine Stunde an Bord und die Außenwelt ist verschwunden. Mein Zeitgefühl verblasst. Über dem überwölbten Pool-Pantheon liegt ewiger Sommer, in der Cocktailbar endet die Nacht niemals. Die Kinderclubs haben Tageslichtlampen und bunte Wände, ganztägige Betreuung für Kinder ab sechs Monaten. Zuhause nehmen sich Eltern eine Woche Urlaub, um die Kinder in der Kita einzugewöhnen, an Bord nimmt man ihnen die Betreuung der Kinder für eine Woche ab.

Während meine Kinder hingerissen futtern, alles anfassen, sich in Lounge-Chairs werfen und nice! brüllen, frage ich mich, was Erwachsene wohl während eines Seetages an Bord tun. Und wo. Auf diesem riesigen Schiff gibt es in Wahrheit keinen Platz. Ein schmaler Umlauf zieht sich auf dem obersten Deck um das Vorschiff. Spazieren verbietet sich gleichwohl, denn Minigolfbereiche und markierte Joggingstrecken besetzen den knappen Raum. Der Wellnessbereich verfügt über eine Außenterrasse, auf dem stehen aber Plastikwhirlpools, Sonnenschirme und Dinge herum. Irgendwann dämmert mir, dass die Frage falsch ist. In dieser Welt der Spa- und Barbereiche wird die Last des Erwachsenseins von einem genommen. Dieser monströs große Raum ist eine perfekt entworfene Infantilisierungsmaschine, konsequent der radikalen Bedürfnisbefriedigung verschrieben. Hier in dieser schwimmenden Zwischenwelt darf ich enthemmt konsumieren, verantwortungsfrei und selig gegenwärtig sein. Noch bevor ein Bedürfnis einen Namen hat, wird es von der Befriedigung eliminiert. Immerzu füllt Weiches den Mund, ohne Unterlass fließt Alkohol, irre farbige Dekorationen bombardieren die Sinne, Raummöblierungen verstellen den Blick, bis nichts anderes mehr Kontur hat als der nächste Drink.

Sich voll laufen zu lassen ist eine quasi natürliche Fortführung des Kreuzfahrtkonzeptes für Familienschiffe. Später lese ich, dass sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen zu den häufigsten Delikten auf Kreuzfahrtschiffen gehören – geschuldet dem hohen Alkoholkonsum.
Von Ängsten entstellt wälzen sich im dritten Höllenkreis die Schattenleiber jener Toten, die der Gier verfallen sind.

Restlos ist die Natur also nicht gebannt. Auf dem ganzen Schiff sind an Treppenaufgängen, in Fluren, in Nischen und vor dem nächsten Irgendwas-Bereich Desinfektionsspender angebracht. Brühe auf die Finger spritzen, wedeln, weitergehen. Was gegen Noroviren und Bazillen in Stellung gebracht wird, erinnert an die Welt da draußen, in der grässliche Bakterien und erwachsene Unternehmer hausen. Die indonesischen Kellner verdienen rund 700 Euro monatlich. Bei einem Stundenlohn von etwa 2,40 Euro müssen sie dafür ungefähr 300 Stunden schuften, sieben Tage die Woche, elf Monate im Jahr. Das Schiff fährt – wenn es denn fährt – unter italienischer Flagge. Italienisches Recht ermöglicht den sogenannten Lohnsteuereinbehalt, das heißt, die Lohnsteuer wird dem Arbeitnehmer abgezogen, doch nicht dem Staat abgeführt. Die Reederei behält den Betrag und zahlt nur den Nettolohn aus. Der Mutterkonzern der Flotte hat seinen Sitz offiziell in Panama und zahlte im Jahr 2015 bei einem Umsatz von 15 Millarden US-Dollar einen Steuersatz in Höhe von 2,3 Prozent.

Als ich diese Zahlen zuhause am Schreibtisch nachlese, sind wir schon durch die Hafenanlagen und den Alten Elbtunnel in die Stadt geradelt. Auch die Familienabstimmung über eine Kreuzfahrt liegt hinter uns. Die Abenteurer für einen Tag blickten dabei über den grauen breiten Fluss auf seinem Weg zur Nordsee.

Katzenjammer im Koffer

Ganze Zeitschriften widmen sich dem Thema »Reisen mit Kindern«. Überall warten einzigartige Momente darauf von wunderbaren Menschen erlebt zu werden.
Mit drei Kindern allein zu reisen, kann aber auch eine einzigartige Strafexpedition sein. Der Bericht einer misslungenen Bahnreise.

Als allein reisender Mensch mit drei eher kleinen Kindern sollte man entspannt sein. Ist man aber nicht immer. Zuhause hege ich wie ein Anfänger noch Träume und packe zusätzlich zu allem anderen ein Buch für mich selbst zur Lektüre ein.
Ich lege das neue Hardcover einer Journalistin, deren Arbeiten ich sehr schätze, neben Conny am Strand und Finna, das Wikingermädchen in die Schultertasche. Insgesamt: eine Schultertasche, ein grünes Rucksackmonster, ein Rollkoffer, eine Reisetasche in Marienkäferdesign, ein Beutel mit Delfinen drauf und drei blaue Rucksäckchen.

Bereits auf dem Bahnsteig im Hauptbahnhof bin ich kaputt, verschwitzt, mit schmerzenden Schultern, genervt. Während ich Kinder und Gepäck bändige und es mir zum zehnten Mal misslingt, mir die reservierten Sitzplatznummern zu merken, und obendrein ein Kind damit droht, sich augenblicklich in die Hose zu pinkeln (was ich aus Erfahrung sofort glaube), ich die Not daraufhin mitten auf dem Bahnsteig gegen die gläserne Wand des Schaffner-Infohäuschens abhaltend verringere, fühle ich mich sehr dünnhäutig. Warum hilft mir eigentlich nie einer? Wie konnte es zu dieser Gesamtsituation kommen? Warum kann ich mir nicht selbstverständlich ein Taxi leisten?
Ich finde es im Prinzip richtig, dass alleinerziehende Mütter mit Kindern über drei Jahren berufstätig sind und sein können sollten. Aber was für ein mühseliges Leben das alles.
Um mich herum Elternpaare mit jeweils einem süßen Kind. Sehen unheimlich tolerant und distanziert herüber. Junge Männer, die gucken. Ein Schaffner, der mich tierisch laut anblafft.

Als ich das nächste Mal Zeit habe hochzuschauen, sehe ich die Journalistin, deren Buch ich dabei habe, mir gegenüber sitzen: kühl, elegant, intellektuell, mehrere Zeitungen vor sich, in kultiviertem, angeregtem Gespräch. Jetzt allerdings akut irritiert. Was man ihr nicht verdenken kann. Ich habe mich früher upgraden lassen, wenn ein Kleinkind in der Reihe vor oder hinter mir saß. Meine Dünnhäutigkeit verstärkt sich.
Inzwischen Schleichtiere überall, Käsebrote, zweimal Finna, das Wikingermädchen laut gelesen, ausgekippter Delfinbeutel.
Dann: Mama, die Frau da ist auf dem Foto in deinem Buch.
Ich atme weiter.
Mama, das ist die Frau! Gekruschel, während ich kniend Buntstifte aus Sitzritzen fische. Das Kind hält triumphierend das Buch hoch.
Ich will nicht, dass irgend jemand jetzt irgend etwas zu mir sagt.
Die Journalistin schaut mich an. Besitzt die Diskretion, kein Wort zu sagen.
Ich wusste, dass sie gut ist.

Gender, Emanzipation, Theorie, Entgeltgleichheit, strukturelle Ungleichheit, soziale Fragen – es ist mir alles egal.
Ich bin eine Frau ohne Hobbies und ohne Zeit zum Lesen. Ich gehe ganz allein auf die ICE-Toilette und wasche mir die Hände. Auch solche Tage gehen vorbei.

So war mein Frauentag

Der Baumarkt an sich ist ja eine großartige Sache.
Füllhorn der Einsichten für Stadtethnografinnen, Gendertheoretiker, Kapitalismuskritikerinnen, Linguisten (Hochdruckeinspritzdüsenautomatikeinrichter), Paartherapeuten und Semiotikerinnen, die dort an jedem beliebigen Samstag aasen können wie der Leopard in der Lämmerherde.

Für mich persönlich ist der Baumarkt kein natürliches Habitat.
Ich bin handwerklich nicht geschickt. Ich kann nicht schwer tragen, und meine Arme tun schnell weh. Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass meine Fähigkeiten auf dem Gebiet des handwerklichen Tuns sehr beschränkt sind, was mich im Grunde nicht beunruhigt, aber nervös macht, wenn ich mich auf dem Hoheitsgebiet der Zupackenden und Hobbybegeisterten bewege.
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Wechselmodell: Sonntags An- und Abreise

Der Bundesgerichtshof hat am 1. Februar 2017 ein Urteil  gefällt, welches das paritätische Wechselmodell stärkt. In diesem Modell leben die Kinder getrennt lebender Eltern – so beide das Sorgerecht haben – wechselweise eine Woche hier und eine dort.
Liest man als Laie die Urteilsbegründung, scheint eine Überlegung von grundsätzlicher Bedeutung zu sein: Der BGH erkennt das Residenzmodell nicht als gesetzliches Leitbild an. In der Praxis mag die überwiegende Regelung so aussehen (Kind lebt bei der Mutter und verbringt jedes zweite Wochenende oder auch häufiger beim Vater), der Gedanke und die rechtliche Ausgestaltung des gemeinsamen Sorgerechts hat das Residenzmodell aber weder zur Grundlage noch zum Ziel.
Die Argumentation kann ich nachvollziehen und nehme sie als eine offene und auf Gleichberechtigung gerichtete Lesart wahr, die sich nicht an der konventionellen und bestimmt häufigsten Form der Lebenswirklichkeit orientiert, sondern an den rechtlichen Möglichkeiten, Forderungen und Aufgaben des gemeinsamen Sorgerechts. Auch wenn ein Elternteil das Wechselmodell ablehnt, soll diese Ablehnung eine paritätische Regelng nicht grundsätzlich verhindern. Einschränkungen und Vorbehalte formuliert der BGH ausgerichtet am Kindeswohl:
1. Das paritätische Wechselmodell setzt eine bestehende Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der Eltern voraus.
2. Entscheidender Maßstab der Regelung ist das im konkreten Einzelfall festzustellende Kindeswohl.

Die Sache ist spannend und keineswegs einfach.
Grundsätzlich und rechtlich kann ich nicht anders als mich der Argumentation des BGH anzuschließen. Väter sollen Verantwortung übernehmen, Kinder haben ein Recht auf ihren Vater.
Nehme ich aber die konkreten Umstände der Klage in den Blick, die die Realität der allermeisten Trennungsfamilien widerspiegelt, kommen andere Aspekte dazu, die sehr viel weniger eindeutig sind.

In Schweden werde das paritätische Wechselmodell häufiger praktiziert als in Deutschland, heißt es. Es heißt aber auch, in Schweden gebe es ausgezeichnete staatliche Kinderbetreuung und vorbildliche Arbeitszeitmodelle, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen. Wie gestaltet sich ein Arbeitsalltag in Deutschland, in dem der/die Angestellte eine Woche regulär bis 18 Uhr arbeitet, in der nächsten Woche aber um 15.30 Uhr das Büro verlässt oder auch mal um 14 Uhr, weil am Rosenmontag die Kita zumacht? Ich kenne keine Arbeitssituation, die diese Freiräume ermöglicht. Ich kenne keine Alleinerziehenden, die mit jüngeren Kindern einen Vollzeitjob leisten. Staatliche Kinderbetreuung bis 18 Uhr ist häufig immer noch ein Verwahrmodell und endet obendrein, wenn das Kind in die 5. Klasse kommt.
Die Frage nach der Vereinbarkeit mag nicht unmittelbar am Kindeswohl ausgerichtet sein, betrifft aber im paritätischen Wechselmodell die ökonomische Grundlage des kostenintensiven Doppelmodells und unter Umständen beide Elternteile – oder eines, das aus eben diesen Gründen Einspruch erhebt. Wäre es vor einem richterlich verordneten Wechselmodell politisch nicht angemessen, eine rechtliche und soziale Umgebung zu schaffen, die solche Familienmodelle ermöglicht?

Der Vater eines 13-jährigen Kindes hat die Klage eingereicht. Der Junge hat seit einigen Jahren laut einer gemeinsam Vereinbarung der Eltern seinen Lebensmittelpunkt bei der Mutter. Der Vater war zu keinem Kompromiss bereit und bestand auf dem paritätischen Wechselmodell. Das Landgericht hatte den Jungen nicht gehört, ebenso wenig hatte der Vater seinen Sohn gefragt.
Wie nimmt (in diesem Fall) ein Vater seinen Dreizehnjährigen wahr, wenn er über dessen Kopf und Lebensgestaltung hinweg sein Recht durchsetzt? Liegt Eltern wirklich das Kindeswohl am Herzen, wenn der Streit vor Gericht führt und dort das Kind darüber befragt wird, wo es am liebsten wie lange wohnen will? Jeder, der einmal Kinder in einer Trennungssituation begleitet hat, kennt die Loyalitätskonflikte und Ängste eines Kindes, das weder Mutter noch Vater kränken will.
Es fällt mir tatsächlich schwer, die persönliche Anhörung des Kindes vor Gericht nicht als immanten Widerspruch zur Voraussetzung der »bestehenden Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der Eltern« zu sehen. Der BGH verpflichtet die Familiengerichte zu einer umfassenden Aufklärung, „welche Form des Umgangs dem Kindeswohl am besten entspricht. Dies erfordert grundsätzlich auch die persönliche Anhörung des Kindes.“ Eltern, die gemeinsam und kooperativ im Wechsel mit ihren Kindern leben wollen, haben in dem Augenblick doch irgendwie ihr Anrecht auf ein solches Modell verwirkt, in dem sie vor Gericht stehen.
Schließlich verlangt das Wechselmodell auch den Kindern einiges ab: sich auf unterschiedliche Erziehungsstile einstellen, Klamotten, Sportsachen und Schulzeug packen, Verabredungen, Wege und Termine haargenau im Voraus planen, sich den Gepflogenheiten zweier Haushalte anpassen, Patchworkformationen ertragen.
Und auch wenn es jetzt Schelte von den Kinderpsychologen hagelt: Zuhause als unverrückbarer Bezugsort ist zumindest im Leben meiner Kinder, als sie klein waren, nicht unbedeutend gewesen. Mein Kiez, mein Bäcker, meine Buslinie, meine Straße, mein Heimweg, meine Kumpels, mein Zimmer, mein Bett. Jeden Tag die gleiche verlässliche Routine. Dienstags Turnen, das Nachbarsmädchen rausklingeln, los. Jeden Dienstag. Nicht nur an den ungeraden.

Zwischen dem Modell, nach dem Kinder den anderen Elternteil alle 14 Tage am Wochenende sehen, und dem richterlich verordneten paritätischen Wechselmodell liegt eine große Zahl von Möglichkeiten, Kompromissen und Verabredungen, die auch neu ausgehandelt werden können und müssen, wenn sich die Wünsche und Bewegungsradien der Kinder verändern.

Das Wechselmodell kann funktionieren: Wenn die Eltern nah beieinander wohnen, sich gut verstehen, ähnliche Erziehungsvorstellungen pflegen und sich in frei zu gestaltenden Arbeitswelten bewegen.

Wenn die beiden Eltern sich aber einig sind über ein hälftig geteiltes Sorgerecht, leuchtet mir das paritätische Modell der wechselnden Elternteile sehr viel mehr ein – in Schweden häufig praktiziert. Die Kinder wohnen fest in der Familienwohnung, die Eltern kommen wechselweise dazu. Sonntags An- und Abreise, alle Sachen im Rollköfferchen, die sie für die kommende Woche brauchen.

Und sag nicht, Du hast schon wieder das Aufladegerät vergessen.

Im Steinzeitalter der Kinderbetreuung

„Agarre de un bifaz“ von José-Manuel Benito Álvarez (España) —> Locutus Borg - Eigenes Werk. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons - https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Agarre_de_un_bifaz.png#/media/File:Agarre_de_un_bifaz.png

In den letzten Jahren hat sich einiges verändert bei der institutionellen Kinderbetreuung, auch zum Besseren: Es gibt mehr Ganztag in den Grundschulen, mehr Krippenplätze, das kostenfreie Vorschuljahr und Sprachförderung in den Kitas.

Quasi das Holozän der Betreuung herrscht im Leben einer alleinerziehenden Berufstätigen, solange sich beide Kinder in Kita und Grundschule bewegen: gesicherter Aufenthalt in der Erziehungs- und Bildungsanstalt von acht bis 16 Uhr. Natürlich gibt es auch mal eine Ausnahme: Elternsprechtag, pädagogischer Jahrestag, Läusealarm, eine Krankheitswelle im Lehrkörper, einen Streiktag oder zwei oder neun bei den Erziehern, ab und an einen Ausflug, hin und wieder eine Konferenz, ein Klassenfest, zuweilen ein Schulfest oder einen Betriebsausflug des Betreuerteams. Kleinigkeiten gewissermaßen, die mit dem Anspruch auf Jahresurlaub fair austariert sind.

An dem Tag aber, an dem Kind 1 auf die weiterführende Schule wechselt, katapultiert die Wirklichkeit einen ins Betreuungssteinzeitalter zurück. Meine Kinder sind klein geraten und beim Wechsel neun Jahre alt.
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Schule, the Monster under your Bed

(cc) Marc Palm
Monster (cc) Marc Palm

Neulich las ich auf faz.net einen Artikel zum Thema Schulwahl. Die Autorin Julia Bähr berichtet von den Schauläufen, die weiterführende Schulen neuerdings veranstalten müssen, damit sie angewählt werden, und die man als Eltern besuchen muss, um nur ja den optimalen Bildungsort für den Nachwuchs zu ergattern.
Bähr schlingt noch einen Faden in den Text hinein: Ekliger Turnhallengeruch löst Erinnerungen an ihre eigene Schulzeit aus.
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