Mein Fenster zur Welt. Tag 29

Aleš Šteger, slowenischer Dichter, Autor und Verleger, schaute gestern im FAZ-Feuilleton aus seinem »Fenster zur Welt« in Ljubljana. Ein schöner Text, der die wechselvolle Geschichte eines Hotels auf der anderen Straßenseite erzählt. Nun ist es seit Wochen geschlossen, das so abwechslungsreiche wie ablenkende Fenstertheater der Hotelzimmer gegenüber beendet und der Autor in der ereignislosen Spiegelung der Glasfassade auf der anderen Straßenseite dem Blick auf sich selbst ausgesetzt.
Leuchtender Sonnenschein, gleißend helle Nachmittage wie am Meer sind das Signum der Epidemie. Ich schaue aus meinem Fenster zur Welt und blicke auf das sonnige Fenstertheater gegenüber und als Vexierbild hineingelegt die Spiegelung meines eigenen Fensters, hinter dem ich mich und meinen Nachbarn unter mir sehe. Wir alle vor und hinter diesen Fenstern sind Eingeborene, wie Aleš Šteger schreibt. Wir sind Akteure und Zuschauer, Spiegelbild und Schreckensmaske kleiner Alltage vor und während der Krise. Mich beschäftigt ein Gedanke aus seinem Text: (wir,) die wir in unseren Wohnungen gefangen auf das Weiterleben nach dem Ende des Nachdenkens warten. Es ist nicht leicht, dem eigenen Blick auf sich selbst und die eigene Misere standzuhalten, es ist viel schwieriger, als wir es uns anfangs beschönigend vorgestellt haben.
Ist es tatsächlich so? Warten wir nur gefangen auf das Weiterleben danach? Ist die Begegnung mit der eigenen Misere wirklich die Erfahrung, die erst die Pandemie in dieser Intensität ermöglicht? Soziales Leben ausgesetzt, Aktivitäten angehalten. Die äußere Welt steht still und wir finden uns in dem kleinen Radius wieder, den wir selbst gestalten. Bei meiner seit Jahren praktizierten häuslichen Lebensführung (siehe hierzu gern: Tag 18) gab es keine Misere zu beschönigen. Sie war schon ausgelotet, als die Kontaktsperre begann. Ich bin eine Eingeborene der Misere. Während ich am Schreibtisch sitze und aus dem Fenster schaue, fasse ich eine kleine Beobachtung am Schlafittchen, denn an ihr nehme ich wahr, dass wir nicht nur vage warten, sondern in der Misere noch ein gutes Leben wagen. Apropos warten: Auf den Anruf des FAZ-Redakteurs warte ich natürlich immer noch.

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