Im Steinzeitalter der Kinderbetreuung

„Agarre de un bifaz“ von José-Manuel Benito Álvarez (España) —> Locutus Borg - Eigenes Werk. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons - https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Agarre_de_un_bifaz.png#/media/File:Agarre_de_un_bifaz.png

In den letzten Jahren hat sich einiges verändert bei der institutionellen Kinderbetreuung, auch zum Besseren: Es gibt mehr Ganztag in den Grundschulen, mehr Krippenplätze, das kostenfreie Vorschuljahr und Sprachförderung in den Kitas.

Quasi das Holozän der Betreuung herrscht im Leben einer alleinerziehenden Berufstätigen, solange sich beide Kinder in Kita und Grundschule bewegen: gesicherter Aufenthalt in der Erziehungs- und Bildungsanstalt von acht bis 16 Uhr. Natürlich gibt es auch mal eine Ausnahme: Elternsprechtag, pädagogischer Jahrestag, Läusealarm, eine Krankheitswelle im Lehrkörper, einen Streiktag oder zwei oder neun bei den Erziehern, ab und an einen Ausflug, hin und wieder eine Konferenz, ein Klassenfest, zuweilen ein Schulfest oder einen Betriebsausflug des Betreuerteams. Kleinigkeiten gewissermaßen, die mit dem Anspruch auf Jahresurlaub fair austariert sind.

An dem Tag aber, an dem Kind 1 auf die weiterführende Schule wechselt, katapultiert die Wirklichkeit einen ins Betreuungssteinzeitalter zurück. Meine Kinder sind klein geraten und beim Wechsel neun Jahre alt.
Neunjährige Kinder anderer Leuten mögen pflichtbewusst und autonom sein. Meine Kinder veranstalten Kindersachen, wenn sie allein zuhause sind. One Direction in Dauerschleife, elektronische Spiele, streiten, die Küche zerlegen, streiten, Müsli futtern, bei Mama im Büro anrufen, Flüssigkeiten verschütten, mit dem Roller durch den Supermarkt kurven. In der Art.
Doch bei aller abenteuerlichen Freiheit sind Kinder mit neun, zehn oder auch elf Jahren nicht gern jeden Tag allein, wenn sie aus der Schule kommen. Sie texten ihre Bezugsperson liebend gern voll, mosern sie an, sind es zufrieden, wenn sie ein Zimmer weiter Geräusche hören, höchst einverstanden mit einem leckeren Mittagessen, und manchmal brauchen sie sogar noch jemanden, der sie daran erinnert, dass es Zeit ist zum Turnen zu gehen. Das muss nicht die Mutter sein. In der Grundschule haben Horterzieher*innen für meine Kinder diese wohlige Bild- und tonspur verlässlich produziert.

Ein Bildungssystem, in dem Fünft- und Sechstklässler um 13 Uhr oder auch schon mittags auf die Straße gestellt werden, ist ein irrwitzges Relikt. Man kommt in der heutigen Zeit sicher ganz gut damit zurecht, wenn Großeltern in der Nähe leben, ein Elternteil das Feuer hütet, während das andere mit dem Faustkeil hantiert, oder aber genügend Geld für private Kinderbehütung vorhanden ist. 19 Prozent der Familien in Deutschland leben mit einer alleinerziehenden Person, etwa 8,2 Millionen (Statistisches Bundesamt). Von denen verdienen 40 Prozent bis zu 1.300 Euro monatlich, weitere 45 Prozent zwischen 1.300 und 2.600 Euro (Monitor Familienforschung). Für das Kindermädchen wird das in den seltensten Fällen reichen. Zwölf Wochen Schulferien im Jahr sind ein organisatorischer Albtraum, eine Seilakrobatik, bei der man zwangsläufig abstürzt, sobald das Kind in der fünften Klasse ist.

Das gleiche Bildungssystem setzt in seinem Kern stillschweigend voraus, dass häusliche Laienlehrer die Hausaufgaben supervidieren, und das achtjährige Gymnasium stellt in dieser Hinsicht keinen Fortschritt dar. Die Anforderung, die die Schule selbstverständlich an die Eltern stellt, hat nichts mit der Schlauheit oder dem Lerneifer eines einzelnen Kindes zu tun. Der Unterricht ist auf Training und Unterstützung zuhause ausgelegt. Soziale Chancengleichheit sieht anders aus. Darüber hinaus höre ich gern mal Vokabeln ab oder beschäftige mich in Ruhe mit dem Skelett von Vögeln, doch wenn ich Lehrerin hätte werden wollen, wäre ich Lehrerin geworden. Nicht zuletzt haben Privatschulen auch deshalb großen Zulauf, weil sie im Ganztag arbeiten oder solide Betreuung anbieten.

„Laut Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) verbringen Frauen in Deutschland im Durchschnitt 164 Minuten am Tag mit Putzen, Kochen, Bügeln – und Kindererziehung. Männer dagegen nicht halb so viel, nämlich 90 Minuten. In diese Zeit ist alles eingerechnet, was unter Familienarbeit fällt, also auch Rasenmähen und den Kindern bei den Hausaufgaben helfen.“ (ZEIT)
254 Minuten Haushalt & Kindererziehung am Tag. Die meisten Paare mit Kindern entscheiden sich für Teilzeitarbeit eines Partners. Kann ich wirklich gut verstehen, auch wenn fast ausschließlich die Frauen diesen Part übernehmen.
Division kann man bei uns durch acht Uhr abends teilen und alle Deklinationen um den Fall Erschöpfungtiv erweitern – Singular wie Plural.

Foto: „Agarre de un bifaz“ von J. B. Álvarez (España) —> Locutus Borg – Eigenes Werk. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons – http://gruenlink.de/132w

3 Gedanken zu “Im Steinzeitalter der Kinderbetreuung

  1. Ja. Hier in Hamburg bemüht man sich einigermaßen auch um die schulische Betreuung etwas älterer Kinder. Offziell bieten die meisten weiterführenden Schulen was an. Bei Schulanmeldung wird man aber doch etwas komisch angeschaut wenn man sagt, dass der künftige Siebtklässler Interesse an der Nachmittagsbetreuung hat. Klar könnte der auch allein zu Hause sein. Aber wär das nicht schön, er hätte vorher was Warmes zu Mittag gegessen und eine „Lernzeit“ hinter sich gebracht, in der er sich auf jeden Fall mit seinen Schulbüchern beschäftigt, einfach weil da sonst nichts anderes zu tun ist? Statt dass die Eltern abends meckernd und motzend hinter ihm stehen, damit noch ein bisschen was gemacht wird?

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