Interessant, wenn jemand eine Meinung vertritt, und trefflich, wenn die FAZ eine ganze Seite dafür freischlägt. Die Zeitung veröffentlicht heute (FAZ vom 4. April 2012 auf Seite 7) einen Artikel des Kinder- und Jugendarztes Dr. Rainer Böhm aus Bielefeld mit der Überschrift „Die dunkle Seite der Kindheit“.
Böhm befindet, die chronische Stressbelastung, die bei Kleinkindern durch die Ganztagesbetreuung in einer Krippe entsteht, sei „die biologische Signatur der Misshandlung“.
Kleinkinder dauerhaftem Stress auszusetzen, ist unethisch, verstößt gegen Menschenrecht, macht akut und chronisch krank.
Ohne lange Umschweife (und Platz hätte er gehabt) bringt der Kinderarzt die Befunde auf den Tisch: Außerfamiliäre Betreuung für Kinder unter drei Jahren ist selbst bei qualitativ sehr guter Betreuung Menschenrechtsverletzung. Die Folgen für die Kinder seien in unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten: deutlicher Rückgang an sozioemotionaler Kompetenz, verschlossenere, mürrischere, unglücklichere, ängstlichere, depressivere undsoweitere Kinder, erhebliche Risiken für das Bindungsmuster zwischen Mutter und Kind, dissoziales Verhalten im späteren Lebensalter, Ungehorsam (sic! Einfügung von mir), häufiges Schreien, Problemverhalten, das dem klinischen Risikobereich zuzuordnen ist, erhöhter Tabak- und Alkoholkonsum, Rauschgiftgebrauch, Vandalismus und Diebstahl.
Böhm stützt seine vermeintlich frische, wissenschaftliche Argumentation ausschließlich auf die US-amerikanische NICHD-Studie, die bereits 2007 veröffentlicht wurde und international kommentiert, bewertet und aufbereitet worden ist – auch in Deutschland, wo die Argumente diskutiert wurden und wo in der Debatte auf ein zentrales Problem hingewiesen wurde: Die Situation in der frühkindlichen außerfamiliären Betreuung unterscheidet sich in den USA deutlich und strukturell substanziell von der Lage in Deutschland. Es besteht laut einem Gutachten des Familienministeriums ein eklatanter Mangel an einer verlässlichen Langzeitstudie, die die spezifischen Daten und Merkmale deutscher Betreuungseinrichtungen in den Fokus nimmt.
Nachdem dem geneigten Leser alle schlimmen Sachen also zur Kenntnis gebracht wurden, als handele es sich um ahistorische, unumstößliche Wahrheiten, orakelt Böhm dramaturgisch geschickt, dies sei nur die Spitze des Eisbergs. Denn, und dann kommt der Satz, der diesen ganzen ideologieverbrämten schlechtesten Text aller Zeiten vollständig bis zu seiner erbärmlichen gedanklichen und sprachlichen Nacktheit decouvriert:
„Dank einer neuen Technik konnten Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten Ende der neunziger Jahre bei Kleinkindern in ganztägiger Betreuung (..) erstmals das Tagesprofil des wichtigsten Stresshormons Cortisol bestimmen.“
Eine neue Technik also, unbenannt, anonym und fünfzehn Jahre vor der NICHD-Studie durchgeführt, völlig ohne systematischen, methodischen oder inhaltlichen Zusammenhang zu der genannten Studie. Die Biologie als Totschlagargument wird einem gänzlich anderen theoretischen Ansatz oktroyiert und verquirlt zu einer monströsen Performance:
Vor allem Kinder unter zwei Jahren zeigen nach fünf Monaten qualitativ durchschnittlicher Krippenbetreuung stark abgeflachte Cortisol-Tagesprofile – vergleichbar mit den Werten , die in den neunziger Jahren bei zweijährigen Kindern in rumänischen Waisenhäusern gemessen wurden.“
Ja, ich stimme dem Kinderarzt Herrn Dr. Böhm zu: Wir müssen weiterhin und sorgsam abwägend über Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Betreuungsmodelle diskutieren und wissenschaftliche Erkenntnisse für die politische Diskussion einfordern.
Der Weg zu einem guten Leben ist noch weit.
Aber solche Artikel, die plumpe Lobbyarbeit für das Betreuungsgeld betreiben, die berufstätige Frauen als unethisch diffamieren, die die Intelligenz der Leserschaft beleidigen und breitschultrig den Ideolgievorwurf weglächeln, solche Artikel machen auf diesem Weg nur unnötig Mühe.
Halber Mensch
Du siehst die Sender nicht
und Kabel hängen
längst verlegt
aus deinen Nerven-
Enden längs des Wegs
Geh weiter!
Sieh deine zweite Hälfte…
Wer geteilt ist hat nicht mitzuteilen
(Einstürzende Neubauten, Halber Mensch, 1985)
Ein Gedanke zu “Der Deutschen Krippenoffensive endlich zeigen, wo der harte, große Hammer hängt”