Spinnen, Seide, Stahl. Arbeit und Kunst in Brandenburg an der Havel

Vom Berliner Hauptbahnhof fährt die Bahn in einer Stunde nach Brandenburg. Jollen und Bootsstege vor dem Zugfenster. Wir reisen ins Havelland. Für ein Wochenende wollen wir eine Stadt erkunden, von der wir so gut wie nichts wissen. Ribbeck und seinen Birnbaum können wir noch, dann sind wir da.

Von der Straßenbahnhaltestelle an der Luckenberger Brücke aus sind es ungefähr zweihundert Meter. Ein Parkplatz linkerhand mit Supermarkt, Discounter und Drogerie. Alte hocken auf ihren Rollatoren vor einem Imbisswagen. Wenige Schritte weiter wissen wir, wo diese zerrupften Raben sich zum Schlafen hinschieben. Im langgestreckten Ziegelbau an der Neuendorfer Straße ist ein Seniorenheim der AWO untergebracht. Mitten in einem Gewerbepark liegt unsere Ferienwohnung also, doch bevor sich eine komische Vorahnung ausbreitet, stehen wir vor dem denkmalgeschützten Gebäude mit Tonnengewölbe. Hier haben Kennerschaft und Handwerk aus einer Industrieruine, der einstigen Färberhalle einer Kammgarnspinnerei, eine Architektur-Preziose gemacht. Über zehn Jahre lang war das Gebäude ein lost place, nun glänzt es umsichtig saniert und ausgebaut. Wir finden uns wieder in einer Wohnung mit Natursteinböden und bodentiefen Fenstern, einem Mezzanin aus Sichtbeton und modernen Möbeln. Jedes Detail stimmt.
Irgendwie noch schöner wird es, als wir durch den Garten gehen und die Liegestühle auf dem hölzernen Bootssteg aufklappen. Havelwellen glitzern. Ruderinnen ziehen in langen Schlägen durch. Es ist mild und leise am Wasser in Brandenburg.

Leise war es in dem Quartier bestimmt nicht mehr, nachdem Alfred und Emil Kummerlé 1879 ihre Kammgarnspinnerei errichtet hatten. Kummerlé-Garne waren von ausgezeichneter Qualität und schon bald exportierte die Fabrik in die ganze Welt. Man brauchte Ende des 19. Jahrhunderts zum Spinnen von Wollgarnen enorm große Ringspinnmaschinen und Selfaktoren, die Maschinen liefen rund um die Uhr. Die Shedhallen der Wollwäscherei, Kämmerei, Färberei, Haspelei, Packerei und Wollspinnerei, die Gebäude für Produktion und Lager nahmen das beträchtliche Areal zwischen Neuendorfer Straße und der Havel ein. Wo jetzt die armen Alten wohnen, wurde Rohwolle gewaschen. Die Arbeit an den Ringspinnmaschinen war anstrengend. In den Hallen war es laut und heiß. Nach dem Gesetz hatten die Frauen, die bei Kummerlé und anderswo arbeiteten, unverheiratet zu sein – ungelernt waren sie sowieso und blieben es auch. Es hieß damals, in die Spinne geht man zuletzt, so übel waren die Bedingungen und so schlecht wahrscheinlich die Bezahlung.

Während ich kühlen Weißwein aus dem Supermarkt nebenan schlürfe, betrachte ich das aufragende quadratische Gerüst aus Stangen vor unserem Loftfenster, welches, das vermute ich jedenfalls, einmal den Färberturm gebildet hat, und versuche mir vorzustellen, wie ein Arbeitstag hier in den frühen zwanziger Jahren ausgesehen haben mag. Ein Schwarzweißfoto in einem Buch zur Industriegeschichte zeigt Arbeiterinnen aus dieser Zeit beim Rupfen gewaschener Wolle. Zwischen riesigen Bergen sitzen sie. Monoton arbeitend. Ob es ihnen erlaubt war zu reden?
Gertrud Piter war eine von ihnen. Ihre Eltern konnten für ihre sieben Kinder keine Ausbildung bezahlen, schon früh mussten die zum Lebensunterhalt beitragen. In Brandenburg arbeitete Gertrud zuerst in einer Zigarrenfabrik, dann bei den Corona-Fahrradwerken und später bei Kummerlé. Eine junge Frau mit Courage, sie trat in die Gewerkschaft ein und schloss sich der KPD an. Wahrscheinlich wurde sie bei Kummerlé gefeuert, nachdem sie 1924 bei der Stadtverordnetenwahl kandidierte und als einzige Frau der kommunistischen Fraktion ins Stadtparlament einzog. Danach fand sie wieder eine Anstellung in der Lineol-Figurenfabrik von Oskar Wiederholz, der sie gleich am 31. Januar 1933 rauswarf. Am 22. September 1933 starb sie nach Verhören, Folterungen und Vergewaltigung im KZ Brandenburg, im ehemaligen Zuchthaus Görden. Zur Gedenkstätte am Nicolaiplatz ist es nur ein kurzer Spaziergang durch die gepflegten Uferanlagen. Deckchairs, bunte Blumenrabatten, Bootsanlegestellen. Es ist wirklich so hübsch wie in einer Bundesgartenschau.

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Ein Slawendorf-Freilichtmuseum könnten wir im Park besichtigen. Eigentlich sollten wir das tun, ist das doch das Christentum im nachgiebigen Sand der Mark eine relativ junge und zudem sehr flüchtige Erscheinung. Erst 948 n. Chr. wurden im Heidenland zwei Bistümer gegründet. Doch die Slawen vertrieben die Christen wieder. Der Germane Albrecht der Bär – was ein hervorragender Germanenname ist – gliederte Brandenburg 1157 endlich dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation an und christianisierte die Leute, tausend Jahre später als am Rhein. Nachhaltig gelungen ist das Projekt nicht: Weniger Kirchenmitglieder als in Brandenburg gibt es heute nirgendwo in Deutschland.

Über die Jahrtausendbrücke und am Historischen Hafen vorbei, gelangen wir auf die Dominsel und spazieren durch Schrebergärten zum Dom St. Peter und Paul. Wie aus der Zeit gefallen liegt das strenge Ensemble aus Dom, Klausur und Kurien zwischen dem Beetzsee und der Havel. Die Ruhe im Domhof ist von der Art, die man Stille nennen möchte. In sich gekehrt, abgewendet vom städtischen Geschehen.

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Durch das hohe dreischiffige Langhaus, weiß und ochsenblutrot gestrichen, gehen wir auf den Lehniner Altar auf dem Hohen Chor zu. Seit 1518 steht die hölzerne Strahlenkranzmadonna mit dem Kind auf der Mondsichel im Zentrum des Altars, von zartem Teint, überiridischer Gelassenheit und katholisch bis in die kleinste Falte ihres blauen Mantels. Offenbar aber auch schon Mitte des 16. Jahrhunderts so wertvoll, dass es klüger war, die Figur irgendwie protestantisch zu deuten und weiterhin zu nutzen, als sie zu zerschlagen.

Die Heilige Ursula auf dem rechten Altarflügel erkenne ich natürlich an ihren Pfeilen. Neun Jahre Ursulinengymnasium haben Heiligenlebensläufe, Kurztitel päpstlicher Enzyklika und ikonographische Bedeutungsfitzel in meinem Gedächtnis verknäult. Bildung für Mädchen war das Ziel der Ursula von Medici und dass wir neben den wichtigen Dingen auch Handarbeit lernen mussten, hatte mit Demut als Tugend zu tun und mit dem unwahrscheinlichen Fall, man bekäme irgendwann im Leben kein gutes Personal. Ich habe Handarbeiten gehasst. Aus Ungeduld, aus jugendlicher Arroganz, aber auch ganz befangen in einer wirkungsmächtigen Tradition der Ignoranz, die ich an diesem Tag im Brandenburger Dommuseum allmählich zu begreifen beginne. Im Mittelalter zählten die textilen Künste noch zu den artes mechanicae so wie Bildhauerei, Architektur und Bekleidungshandwerk. Wann die Wertschätzung für eine Kunstform der Abwertung als weiblich-überflüssige Beschäftigung wich, weiß ich nicht genau. Frühes 19. Jahrhunderts schätze ich.

Gewiss hätte ich mich nie aus freien Stücken mit einem alten weißen Stickbild befasst, wäre ich nicht im Halbdunkel des Dommuseums quasi vor dieses Kunstwerk gestolpert, dessen seidiger Glanz und innige Schönheit mich augenblicklich gefangen nehmen. Das Wort vestis, Gewand, trägt das Wertvolle mittelalterlicher liturgischer Gewänder, die zum Gesamtkunstwerk Gottesdienst gehörten, in sich: Die Investition und gut betucht erinnern daran.
Das Brandenburger Hungertuch von 1290, neun Quadratmeter groß, ist das Prachtstück im Dommuseum. Die Prämonstratenser-Domherren verdeckten in der Fastenzeit damit den Hauptaltar. Die Gläubigen verzichten als Akt der Demut in der Fastenzeit darauf, Gott im Sakrament zu schauen. Sie nagen am Hungertuch.



Die weiße, in großen Rundbildern gefertigte Leinenstickerei zeigt die Lebensgeschichte Christi von der Verkündigung bis zum Weltgericht. Wie bei Glasmalereien auch verläuft die Bildreihenfolge von unten links nach oben rechts. Das zentrale Motiv ist die Kreuzigung, umrahmt von Propheten. Über die Jahrhunderte sind die Konturen der Motive verblasst, weiße Seidenstickerei liegt auf weißem Leinen – eine schlichte Arbeit mag man meinen. Die Strenge aber der Weißstickerei wird aufgelöst durch lebhafte Musterungen, durch die Verwendung von Seide und geometrische Flächengestaltung. Einzelne Motive sind auf Durchsicht gearbeitet, so dass der natürliche Lichteinfall im Dom durchbrochen gearbeitete Bildteile zum Leuchten bringt oder flache Reliefs reflektierend strahlen lässt. Ikonografisch bedeutende Motive werden so zeichenhaft hervorgehoben – auf einmal wird Licht sichtbar und erzeugt zugleich Bedeutung. Sei es metaphorisch auf einem Strahlenkranz, sei es als tatsächliches Leuchten von Oberflächen wie von einem Dolch oder einer polierten Säule.

Die Schwestern haben Ende des 13. Jahrhunderts einen langen Arbeitstag. Sticken und Weben bestimmen den Klosteralltag. Der Bildervorrat, nach dem sie arbeiten, ist knapp bemessen. Im Kloster gibt es eben nur eine bestimmte Anzahl von Wandbildern, illustrierten Büchern, Psalterien und Evangeliaren. Also liegt das Augenmerk auf der möglichst kunstvollen Ausführung der Stickerei. Ein Meister trägt die Vorzeichnung auf, für die Feinheiten sind die künstlerischen Leiterinnen der Werkstatt verantwortlich. Sie konzipieren auch das gemeinschaftliche Vorgehen. Die Ordensschwestern arbeiten gemeinsam, besprechen sich und stimmen die Verfahren ab, doch stickt je eine Nonne eigenständig ein einzelnes Rundbild. Zuerst füllen sie die Konturen aus, dann die Flächen mit Plattstichstrukturen. Das Fastentuch ist eines der frühesten Beispiele für Hexenstich und versetzten Flachstich, für Stiel-, Schling- und Knopflochstich und den Kettenstich. Die Frauen sind erfahren und hervorragend ausgebildet. Nirgendwo findet sich eine Verbesserung oder gar der Abbruch einer Sticklinie. Unverwechselbar die Handschrift jeder Einzelnen, die ihr Können alle aus verschiedenen Klosterwerkstätten an diesen Ort mitgebracht haben.

Christentum wie Infrastruktur waren so kurz nach dem Sieg von Albrecht dem Bären noch etwas schwachbrüstig. Er musste zeigen, dass es sich lohnte unter seiner Flagge zu segeln. Also startete er ein Ansiedlungsprogramm, ließ Wälder roden und Sümpfe trocken legen. Einwanderer kamen in die Mark und brachten neue Handwerkstechniken mit. Aus den westlich gelegenen Klöstern wurden Nonnen in die mittelmärkischen Neugründungen beordert. Details des Fastentuchs verweisen auf Herstellungstraditionen aus Hildesheim, Magdeburg, Donaueschingen und München hin. Erst das Zusammentreffen von Meisterinnen aus verschiedenen Regionen führte zu dieser unvergleichlich reichen Arbeit. Sie entwickelten grafische Feinzeichnungen weiter, versuchten individuelle Ausdrucksformen und vollführten eine Bildsprache, die von mystischer Religiosität getragen ist. Offenkundig hatten sie auch Witz und eine bildliche Imagination, die uns 730 Jahre später noch erreicht. In dem Bild, das die Himmelfahrt Jesu darstellt, baumeln – abgeschnitten vom oberen Bildrand – Rocksaum und darunter nackte Füße am Himmel. Die Figur schießt augenscheinlich noch raketenartig nach oben. Den letzten Zipfel hat die Stickerin gerade noch erwischt bei der schnittigen Himmelfahrt. Unten im Sand aber sind die Fußabdrücke des Herrn zu sehen, als er ganz menschlich rumstand.
Kein Wort im Museum über die Frauen, ihre Arbeitsweise, ihre kreative Handschrift.

In Bibliotheken finde ich später Beschreibungen und historische Aufrisse. Vor allem die Bibliothek des Museums für Kunst und Gewerbe in Hamburg ist eine Fundgrube. Ein Titel, den ich anfordere, liegt gerade bei einer Kuratorin auf dem Schreibtisch, die freundlicherweise eigens aus ihrem Büro kommt, um mir das Buch über Textilgestalterinnen im frühen 20. Jahrhundert zu leihen. Sie arbeitet an der Ausstellung Gegen die Unsichtbarkeit. Designerinnen der deutschen Werkstätten Hellerau 1898 – 1938. Wenn ich meine Brandenburger Fragen auf der Zeitachse Richtung Gegenwart verlängere, schneiden Werkbund und Lette-Verein den Gedankenstrom.
Auch unverheiratete bürgerliche Frauen hatten um die letzte Jahrhundertwende kaum Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Der akute Arbeitskräftemangel lockerte die Steine, in die das Familienbild gemeißelt war. 1910 waren über eine Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen in der Textilindustrie beschäftigt. Mehr sogar noch in der Metallindustrie: 1,25

(c) privat

Millionen Menschen schufteten in Stahlwerken und Eisenhütten. Human Ressources bildeten den Schlüssel für steigende Produktivität. Selbst im autoritären Klima der Kaiserzeit war es da auf einmal denkbar, dass Frauen arbeiteten. Der Lette-Verein entwickelte sich unter der Leitung der frauenemanzipatorischen Reformerin Anna Lette zu einer Bildungseinrichtung für Frauen, die dort in Fotografie, Zeichnen und Kunststickerei ausgebildet wurden. Der Lette-Verein erfand den Beruf der Medizinisch-Technischen Assistenz und die Ausbildung zum Metallurgen.

Klare, helle Luft, als wir aus dem Dommuseum ins Freie treten. In der Wilhelmsdorfer Straße leihen wir uns Räder und radeln, versehen mit detaillierten Routenempfehlungen, los. Die Überfahrt mit der Havelfähre Neuendorf ist so rundum idyllisch und perfekt, dass ich schon beinahe beschlossen hatte, sie nicht zu erwähnen. Am Seil läuft das kleine Fährschiff über einen stillen Seitenarm der Havel. Erinnerung an Kindheitsglück, intakte Natur. Erkennbarer Pendelverkehr durch Kinder, die das Maß einer einmaligen Fährdienstleistung übersteigen (als Spaßfaktor), ist durch das Fährpersonal auszuschließen, warnt die Betreibergesellschaft. Die Fährfrau in ihrem blauen Blaumann ist so breitschultrig, so gelassen und selbstbewusst, dass kein Kind ever auf den Gedanken kommen wird, mit ihr irgendeinen Spaßfaktor zu vervielfachen.
Durch Wiesen wie früher, durch sonnigen Auenwald und erfreut von Seeblicken radeln wir am Westufer des Plauer Sees entlang: Schloss, Fontaneweg, englischer Landschaftspark, Kiefern im märkischen Sand, Hausboote, Seerestaurant, Industriegeschichte in Kirchmöser. Es ist alles so wie gedacht, wenn nicht sogar eine Spur leerer und verwunschener. So viel Hübschheit erschöpft. Als wir den Silokanal erreichen, sind wir eigentlich bereit für ein Nachmittagsschläfchen. Aber an der Halle des Stahl- und Walzwerks Brandenburg dort drüben kommen wir nicht vorbei.

Bild 1 (c) siehe unten

Wie ein hart gelandetes UFO steht die Maschinenhalle am Kanalufer. Rostige Kaikräne, verzogene Schienen und rissiger Asphalt berichten von jahrzehntelangem Verfall. Alles in dieser Halle ist so unerhört überdimensioniert, dass ich mich auf der Stelle wie ein Kind fühle, das staunend vor so viel Können und Größe steht. Die Frauen, die uns in die kleine Ausstellung zur Werksgeschichte einweisen, erzählen, dass sie bis zur Schließung 1993 hier gearbeitet haben. Sie strahlen eine Ernsthaftigkeit aus, die ansteckend ist. Das hier mag nun ein technisches Denkmal sein, aber es ist immer noch ihr Betrieb.
Es riecht intensiv nach Eisen, Rost, metallischen Gegenständen, Maschinenöl und Feueröfen. Nicht unangenehm. Eher trocken, funktional. Nach Dingen, Bewegung, Funken, Mechanik. Braun glänzt in allen Mattierungen, rostiges Rot, gedecktes Grau, staubiges Mauve, verwischte Schwarzschattierungen, müdes Beige, leuchtendes Blau dazwischen. Als beträte man ein Bild, losgelöst von den ursprünglichen Funktionen, vom Schmutz und Lärm und Tun.

Im Stahl- und Walzwerk Brandenburg wurde in zwölf Siemens-Martin-Öfen Stahl geschmolzen, der größte Rohstahlproduzent der DDR mit mehr als 10.000 Beschäftigten. Knapp ein Drittel davon Frauen. Wenn ich in der schwarzweiß gedruckten Dokumentation zur Dauerausstellung lese, dass die Metallurgie in der DDR von allen Industriezweigen den höchsten Anteil an Schichtarbeitern hatte, 64% der Beschäftigten dreischichtig arbeiteten und 38% zweischichtig, dann scheue ich ehrlich davor zurück, mir den Alltag der Frauen vorzustellen – eingereiht in den Arbeitsprozess und weiterhin zuständig für die Familie. Dreischichtbetrieb multipliziert mit Doppelbelastung. Selbst 900 Krippen-, Kindergarten- und Hortplätze, eigene Ferienheime, der Sportverein BSG Stahl Brandenburg, ein Kulturhaus und die Betriebszeitung Roter Stahl erleichtern diese gewaltige Arbeitslast nicht. Sie verengen eher die Lebenswelt, denn Arbeit wie Freizeit wie Kinderbetreuung finden innerhalb des Werks statt. Das Werk ist das Leben, die Kolleginnen eine zweite Familie.

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Das Werk, das der saarländische Stahlbaron Rudolf Weber mit erfahrenen Stahlarbeitern aus seiner Heimat 1914 ans Laufen brachte, übernahm Friedrich Flick 1929, wandelte es in einen Rüstungsbetrieb um und beutete für die Panzerproduktion tausende Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter aus. 1917 inserierte Weber im Brandenburger Anzeiger. Er suchte kräftige Frauen für Kriegsarbeit. Wieder aus Mangel an Arbeitskräften mussten Frauen dann von 1945 bis 1947 schwerste körperliche Arbeit bei der Totaldemontage und Verschickung des gesamten Werks übernehmen – eine Reparationszahlung an die Sowjetunion. 
1950 kam der Neustart der VEB Stahl- und Walzwerks Brandenburg mit tüchtigen Hausfrauenbrigaden für ungelernte Tätigkeiten und dem Wanderwimpel für die Siegerin im Quartalswettbewerb. Auf einem Foto aus dem Bundesarchiv ist Frau Elisabeth Däubert zu sehen. Vor ihr auf dem Tisch ein beknackter, billiger Wimpel mit der Aufschrift Beste Locherin. Beste Locherin. Lochkartenlocherinnen lochen nach Vorgaben Lochkarten. Den ganzen Tag. Das Foto zeigt sie im Kreis ihrer Locherinnen-Kolleginnen, alle lächelnd wie brave Roboterchen.

Auf unserem eleganten Bootssteg an der Havel, mit Oliven und Weißwein und Abendsonne, beschleicht mich ein Anflug von Schwermut. Am anderen Ufer blaut die Fahne des F.C. Stahl Brandenburg am Mast der Laubenpieper. So viel Kunst, so viel Arbeit. So wenig Veränderung in manchen Dingen.

Ein Foto rettet mich. Qualifizierung bei Freunden heißt es. Den  jungen kubanischen Arbeitern fällt es noch nicht leicht, sich den Arbeits- und Lebensgewohnheiten anzupassen, die unter anderem auch klimabedingt zuhause anders sind.
Was für ein Spaß wäre das rauszufinden, was siebzig langhaarige Kubaner in Brandenburg so angestellt haben.

Bild 2 (c) siehe unten

Ferienlofts havelblau, Übernachtung ab 105 € | http://www.havelblau.de
Dommuseum Brandenburg, Burghof 10, Mo – Sa 10  – 17 Uhr | So 12  – 17 Uhr
Fahrradvermietung Fillipi, Wilhelmsdorfer Straße
Industriemuseum Brandenburg, August-Sonntag-Straße 5, Di – So, 10-17 Uhr

Bild 1: (c) Stiftung Haus der Geschichte; EB-Nr. 1995/11/1596. Urheber R. Barnick GmbH, Berlin, Zentralkomitee der SED
Bild 2: (c) Kubaner im Stahlwerk 1980 Bundesarchiv , Bild 183-69945-0002 / Martin / CC-BY-SA-3.0, via Wikimedia Commons

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