Nach den Touristenmengen, die in einer endlosen, schnatternden Polonaise durch die neue Frankfurter Altstadt ziehen, wirkt die Stimmung in den Ausstellungsräumen der Schirn noch einmal zurückgenommener und konzentrierter, als die monumentalen Tapisserien ohnehin anmuten.
Ehe ich auch nur einen Wandteppich aus der Nähe anschauen kann, läuft mein Gehirn auf Autopilot. Die Warnlampen Dekoration und Kunsthandwerk blinken. Ich spüre nahezu körperlich, dass meine Wahrnehmung, wenn man sie nur einen Moment unbeobachtet lässt, alle Register zieht und durchläuft. Man könnte auch sagen: Ich bin schrecklich konventionell. Abstrakt, seriell, konzeptuell, Pop-art, kubistisch, expressionistisch – das ist kanonische Moderne, und die Ausschlusskriterien sind klar. Gewebte Tiere und buntige Figürchen gehören dazu.
Sicher, Rosemarie Trockel, Louise Bourgeois oder Cosima von Bonin haben Terrain gewonnen, Stricken und Nähen eingesetzt sowie Wolle und Stoff dem Raum der Kunst hinzugefügt. Das Bauhaus-Jubiläum bringt Textilkünstlerinnen wie Gunta Stölzl und Lilly Reich endlich ins Bewusstsein. Und die Ausstellung Gegen die Unsichtbarkeit. Designerinnen der Deutschen Werkstätten Hellerau 1896 bis 1938 im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg hat dieses Jahr erst Arbeiten von Frauen gezeigt, die die Trennlinie zwischen Design, Kunst und Gestaltung zerlöcherten und den Begriff der Moderne erweiterten. Auch die Bilder der Ausstellung Feministische Avantgarde hallen im Bildgedächtnis nach.
Trotzdem gibt es in mir immer noch Reflexe, die wahrscheinlich in direkter Linie von Oskar Schlemmers »Wo Wolle ist, ist auch ein Weib, das webt, und sei es nur zum Zeitvertreib« abstammen. Meine Ignoranz ist sogar mir selbst unangenehm.
Nun stehe ich aber zwischen diesen Wandteppichen und da ich auf keinen Fall wieder zurück in den Tumult ums Authentische da draußen will, beginne ich zu schauen. Es ist ohnehin zu spät: Eigenwillige Figuren, abgeschnittene Hände und plane Gesichter rücken mir unmittelbar nahe, die erzählerische Intensität der Szenerien gibt ihnen physische Präsenz.
Eine außergewöhnliche Frau war Hannah Ryggen. 1894 in einer Arbeiterfamilie geboren, wird sie Lehrerin und entdeckt mit Anfang Zwanzig die Kunst für sich, nimmt Malunterricht, reist 1922 nach Dresden, um dort die Alten Meister wie auch die zeitgenössische Kunst zu studieren. Sie nimmt begierig die Formen der Malerei in sich auf, lässt sich aber keineswegs einschüchtern – weder von Meisterwerken noch von jungen erfolgreichen Künstlern. Als sie einige Monate später nach Norwegen zurückkehrt, hat sie nicht nur den Mann kennengelernt, den sie heiraten wird, sondern sie weiß auch, dass sie etwas mit den Händen erschaffen will, dass ihre Leinwand der Webstuhl sein wird. Zweifeln, verzweifeln wird sie in den nächsten Jahrzehnten, lernen, schuften und scheitern, doch sie weiß offenbar unverrückbar, dass sie eine Künstlerin ist, eine Sozialistin zudem, die Lust an der Provokation verspürt, und eine selbstbewusste Frau, die Vertrauen in ihr Tun legt, gesellschaftliche Tabus nicht scheut und Widersprüche aushält. Zehn Jahre lang verbessert die Künstlerin ihre Technik, erlernt pflanzliche Färbemethoden und taucht durch die Kunstgeschichte der Tapisserie und Freskomalerei hindurch, bis sie ihre eigene Sprache findet.

Hannah Ryggen am Webstuhl, um 1964, Adresseavisen, Trondheim
Mit ihrem Mann Hans und der gemeinsamen Tochter lebte sie isoliert und oft in finanzieller Not auf einem kleinen Selbstversorgerhof an der Westküste Norwegens und schuf dort ihre monumentalen Wandteppiche. Ihre biografischen Entscheidungen sind für das Verständnis ihrer Arbeit gleich mehrfach von Bedeutung:
Hannah Ryggen vergaß nie ihre Herkunft aus der Arbeiterschicht. Dekorative Kunst in der Malerei und rein oberflächliche Muster der volkstümlichen Webkunst interessieren sie nicht. In vielen Arbeiten der 30er und 40er Jahre befasst sie sich mit aktuellen politischen Ereignissen und bekräftigt in der Wahl ihrer Themen und Motive ihre sozialistische Überzeugung. Mit dem traditionellen Medium des Wandteppichs richtete sie sich an die Öffentlichkeit: Sie wollte in Diskussionen eingreifen und möglichst viele Menschen sollten die Bilder sehen können. Mit ihren monumentalen Bildmanifesten, die an öffentlichen Orten hängen sollten, reklamierte Hannah Ryggen obendrein die große Bühne für sich, die weibliche Künstlerinnen bis dahin nicht in Anspruch genommen hatten. Sie hat Zeit ihres Leben nicht an private Sammler verkauft. Die Armut der Familie war bitter, meistens lebte sie von Selbstversorgung und vom Verkauf der Bilder Hans Ryggens, der seine Frau in ihrer kompromisslosen Haltung unterstützte.
Lebensumstände, politische Gegenwart und Selbstverständnis sind mit Hannah Ryggens künstlerischer Arbeit untrennbar verbunden. Das alltägliche Leben, das Verhältnis von Mensch zu Natur, Leben in der Gesellschaft, Liebe und Schmerz, Menschsein, Sterben, Krieg, Machtmissbrauch, Familie, Mitmenschen, politische Anliegen und tagesaktuelle Fragen waren für sie gleichberechtigte Themen, die sie in ihren Collagen und Bühnenbildern erzählend verwob. Ebenso gleichberechtigt verwendet sie Repertoire und Formensprache der zeitgenössischen Kunst neben mythologischen Motiven, verknüpft religiöse Darstellungstraditionen und alltägliche Szenen, verbindet individuelle Symbole mit kollektiver Bildersprache und expressiven Formen.
Und es scheint, als wäre sich Hannah Ryggen ihrer gesellschaftlichen Stellung als Frau immer außerordentlich bewusst gewesen. Sie streitet für einen gleichberechtigten Zugang zum Kunstmarkt und reflektiert Frausein und Mutterschaft, Beziehung und Liebe wie selbstverständlich in ihren Bildern. Dabei war das Thema der Mutter-Kind-Bindung in der Kunstgeschichte 1947, als sie Mutterherz webte, keineswegs selbstverständlich, es war schlichtweg nicht vorhanden. Trauer, intensivste Liebesgefühle, ein zerbrochenes Herz, eine leere Gebärmutter, das Bild erzählt ein berührendes Drama in allen erdenklichen Rottönen. 1937 entstand das Triptychon Unverheiratete Mutter, nahezu mittelalterlich in der bildnerischen Anlage. Das Motiv der alleinstehenden Mutter ist in der Malerei in der Regel mit Armut, Erschöpfung und moralischer Verworfenheit verbunden. Ryggens farbsatte, strahlende Darstellung der intimen Zweisamkeit von Mutter und Kind erzählt von Fröhlichkeit und Selbstbewusstsein. Mehrere Motive überlagern sich in dem Wandteppich Liselotte Herrmann enthauptet von 1938. Die deutsche Kommunistin Liselotte Herrmann, Mutter eines kleines Jungen, wurde 1935 von der Gestapo verhaftet, gefoltert, wegen Spionage zum Tode verurteilt und trotz internationaler Proteste 1938 in Plötzensee hingerichtet. Ryggen verwendet ein Zeitungsfoto als Bildvorlage – ein Foto aus dem kollektiven Gedächtnis – und bearbeitet das Motiv in der Bildwelt einer klassischen Heiligenlegende. Mit ihrem Kind auf dem Schoß gehört Liselotte Herrmann mitten hinein ins Leben, ein roter abgehackter Fuß steht für den Leidensweg, in der Todeszelle liegt nur die Babydecke über ihrer Schulter. Marie Luise Knott schreibt in ihrem Essay »Im Flammenhemd des Lebens«, Hannah Ryggens Arbeiten durchdringen ihre Zeit und transzendieren diese anstatt sich (…) zu ihren Dienern zu machen (Ausstellungskatalog, S. 65). An kaum einem anderen Bild ist diese Bewegung so unmittelbar nachvollziehbar. Das Bild bewegt sich nicht an der Oberfläche der Aktualität, so zeitnah es auch das Ereignis aufnimmt. Es erinnert fürderhin an die mutige junge Frau, zeigt das grauenvolle Unrecht, empfindet die Tragödie eines unvollendeten Frauenlebens nach und macht sie mit den Mitteln der künstlerischen Bearbeitung erst sichtbar. Eine erschütternde Darstellung faschistischer Grausamkeit.
Das Motiv des abgeschlagenen Kopfes taucht in einem anderen Bild wieder auf: Ethiopia von 1935, entstanden kurz nach Mussolinis Invasion in Äthiopien. Haile Selassie hatte den Völkerbund vergebens um Beistand gebeten, das faschistische Italien annektierte das Kaiserreich. In einer Bildreihe sind eine afrikanische Frau, ein europäischer Minister, Hände in verschiedenen Hautfarben, der Kaiser Selassie und schließlich der abgeschlagene Kopf Mussolinis, aufgespießt auf den Speer eines äthiopischen Kämpfers, zu sehen. Die unteren zwei Drittel bestehen aus geometrischen Flächen und Mustern – ein montiertes, sandiges, erdfarbenes, klares Fresko. Ein fast vier Meter langes Protestmanifest ist dieser Teppich und nicht zimperlich in der Motivwahl. Auf der Weltausstellung in Paris 1937 hing der Teppich im norwegischen Pavillon, allerdings zensiert: Mussolinis abgeschlagener Kopf musste nach hinten gerollt werden. Nebenan, im französischen Pavillon, sorgte Picassos Guernica ebenfalls für Furore.
Ein Jahr später, 1936, entstand Tod der Träume, ein Werk, das sowohl die symbolische Fragmentierung der Körper wie auch den bühnenhaften Bildaufbau wiederholt. Die Gestalt des inhaftierten Carl von Ossietzky in Handschellen ist dargestellt. Im Würgegriff des rotgesichtigen Goebbels leidet ein anderer Gefangener. Von größter Kraft ist in diesem Bild aber Ryggens Umgang mit dem Ornamentalen. Auf der braunen Grundfläche zeichnen sich grafische, scheinbar neutrale Muster ab, die erst auf den zweiten Blick ihre Wahrheit hinter dem seriellen Ornament zeigen: Hakenkreuze.

Leidenschaftliche und ausdrucksstarke Bilder ihrer Zeit sind in Frankfurt zu sehen, Kunst, die die Gegenwart bitter nötig hat.
Schirn Kunsthalle Frankfurt, 26.9.2019 bis 12.1.2020