Glückstadt, Stadtgedächtnis, Gedächtnislücke

In niederländischer Festungsmanier ließ der Dänenkönig Christian IV. Glückstadt an der Unterelbe errichten. Die Göttin Fortuna bekam die Stadt ins Wappen gesetzt und einen sechseckigen Grundriss, uneinnehmbar. Anfang des 17. Jahrhunderts war Hamburg durch den Handel mit den Kolonialmächten stark geworden, und Dänemark wollte neben Altona ein zweites politisches und wirtschaftliches Gegenwicht etablieren.
Die Dänengeschichte findet man heute auf jedem Schild. Brötchen, Heringe, Straßennamen – mit dem dänischen Pfund wird gewuchert. Warum auch nicht, ist kein Unheil übers Land gekommen aus Kopenhagen.

Einmal um die eigene Achse gedreht auf dem kopfsteingepflasterten Marktplatz und fertig ist das Panoramabild einer am Reißbrett entworfenen radialen Fürstenstadt. Sieben Straßen laufen sternförmig auf den Platz zu. Es ist friedlich in Glückstadt an diesem Samstagmittag. Adelshöfe, satte Palais und von Hamburgern sanierte Fischerhäuschen liegen mehr, als dass sie stehen, am Hafen. Die Elbe ist hier ein breiter Strom, der den Geruch nach Meer mitbringt, das Licht küstenhell.

Ich müsste eigentlich keinen Ausflug nach Glückstadt machen. Ich kenne Glückstadt. Habe vor langer Zeit für zwei Jahre hier gewohnt, in der Buchhandlung am Fleth gekauft, am Sperrwerk übers Wasser geschaut, habe im Fortuna-Bad gelegen und bin mit dem dunkelblauen Fiat hinter der Bahnschranke auf den Edeka-Parkplatz an der Christian-IV-Straße gebrettert.
In Hamburg fahre ich dieses Jahr oft an den Jubiläumstransparenten vorbei: 100 Jahre Universität. Da stelle ich mir vor, wie ein paar Professoren an einem herrlichen Tag im Jahr 1919 frohgemut auf ein repräsentatives leerstehendes Gebäude deuten und mit dem Lehrbetrieb loslegen. Aber wie bei jeder Geschichte gibt es auch hier eine, die schon vorausgegangen ist, und die Vorgeschichte für die Universität beginnt mit dem Hamburgischen Kolonialinstitut.

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In Hamburg, Kapitale des deutschen Kolonialismus, gab es Anfang des 20. Jahrhunderts Geld, Interesse und eine einflussreiche Lobby für die Einrichtung eines akademischen Instituts, das zunächst nur angehende Kolonialbeamte auf ihre Auslandstätigkeit vorbereiten sollte. 1911 gegründet und aus Stiftungen von Reedern bezahlt, die ihren Reichtum dem Kolonialhandel verdankten, wuchsen die Institute rasch: Ethnologie, Sprachwissenschaften, Sprachen und Geschichte Ostasiens, des Orients, afrikanische Sprachen, Geschichte und Kultur Indiens kamen hinzu. 1918 hatte es ein Ende mit dem deutschen Kolonialwesen, vom Kolonialinstitut blieben die renommierten wissenschaftlichen Fakultäten übrig, aus denen 1919 die Universität Hamburg hervorgehen konnte. Während ich – beschäftigt mit dieser Vorgeschichte – auf der Internetseite des Sonderforschungsbereiches Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa lande und Abbildungen komplexer mehrsprachiger Manuskripte betrachte, fällt mir aus dem Gedächtnis ein Bild zu: eine Pappe mit chinesischen Schriftzeichen hinter einem staubigen Fenster am Fleth, kurz vor dem Fortuna-Schwimmbadeingang. Als ich in Glückstadt wohnte, blieb ich kein einziges Mal dort stehen, obwohl ich oft vorbeiging. Keine Augen damals, keinen Blick.

Um Bewohner für seine neue Stadt zu werben, erlässt König Christian ein Toleranzedikt, verspricht Steuerfreiheit und spendiert Baugrundstücke. Die ersten, die kommen, sind aus Portugal vertriebene sephardische Juden – Kaufleute, Münzmeister und Gelehrte, die das Wirtschaftsleben ankurbeln. Die Belagerung Wallensteins übersteht die junge Festungsstadt, nun braucht Christian, um seinen Einfluss an der Elbe zu festigen, Gedrucktes. Polizeiverordnungen, Gesetzesbücher, Patente und Plakate mussten her. 1632 verleiht der König dem Drucker Andreas Koch das Privileg, eine Druckerei in Glückstadt zu führen. Diesen Betrieb übernimmt 1775 die Familie Augustin, für weitere 200 Jahre bleibt er im Familienbesitz. 1905 geht die Leitung des Unternehmens an Heinrich Wilhelm Augustin über, einen ausgezeichneten Schriftsetzer. Er beginnt früh damit, fremdsprachige Schriftzeichen zu sammeln. Weniger aus kulturellem Interesse denn aus Geschäftssinn. Er akquiriert und bekommt Aufträge vom Hamburgischen Kolonialinstitut – wissenschaftliche Abhandlungen zur Linguistik afrikanischer Sprachen. Über hundert Schriften von Mandschu, Äthiopisch, ägyptische Hieroglyphen, Assyrisch, Koptisch, Keilschrift, Arabisch, Sanskrit bis Persisch oder Tatarisch kann die Druckerei Anfang der dreißiger Jahre setzen. Aufträge für komplizierte mehrsprachige Bücher und Texte in exotischen Sprachen kommen aus der ganzen Welt, denn keine andere Druckerei ist in der Lage, fehlerfrei und in dieser Qualität zu drucken. Später werden das mehrbändige assyrische Wörterbuch der Universität Chicago oder die Abhandlungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo in Glückstadt gedruckt. Als Augustin 1912 die Anfrage bekommt, ein Werk über Ackerbau und Seidengewinnung in China zu setzen, besorgt er sich aus Shanghai 7.200 chinesische Schriftzeichen und erweitert den Bestand 1926 noch einmal um 12.000 Zeichen. Augustin erfindet den Chinesischen Zirkel, ein Möbel, das er wie alles Mobiliar der Druckerei im Hinterhof von seinen Tischlern bauen lässt und das es den Druckern ermöglicht, auf die über 20.000 Zeichen zuzugreifen, ohne ständig Schubladen aufzuziehen oder an Regalen entlang gehen zu müssen. Die bis auf etwa 1,50 Meter Höhe aufeinander gestapelten Setzkästen bilden die sieben Segmente eines Achtecks, durch das freie achte betritt der Setzer diesen magischen Raum und braucht sich nur noch um die eigene Achse zu drehen und zu bücken. Die Setzer prägen sich einzelne Zeichen im Manuskript als Bild ein, zerlegen es in grafische Elemente und finden das richtige anhand eines komplizierten Auffindesystem aus Zahlen und Zuordnungen. Etwa zwei Minuten braucht ein »Augustiner« für ein Zeichen.

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An diesem Samstagmittag kehrt ein Mann den Hof neben dem Haus Am Fleth 36. Ich spreche freundlich vor, und als hätte er nur auf diese Frage, als hätte er schon lange auf einen Besucher gewartet, steht der Besen innert Sekunden an der Wand und ich bekomme eine hervorragende Führung durch die stillgelegte Fremdsprachendruckerei Augustin. Zwei Stunden lang gehen wir von Maschine zu Setzkasten, von Tisch zu Schubladenschrank, von der Gießerei zu den Matritzen, von den Monotype-Maschinen in die Bibliothek mit verglasten Bücherschränken für tausende Bände. Hellgrün blättert die Farbe von den Wänden, Putz bröckelt, der Fußboden wellt sich. Und doch sieht es aus, als wären die Drucker nur eben zum Mittagessen gegangen. Ein Kasten mit hunderten von Gevierten steht da, eine Schublade halb geöffnet mit armenischen Schnörkeln. Akzente, Spatien aller Couleurs, hebräische Vokalzeichen. Sonnenlicht flutet den großen Raum, eine Zeitkapsel, das aus der Zeit gefallenes Gedächtnis der universalistischen Schriftkultur und eine wirklich einzigartige Erinnerung an die Kunst des Buchdrucks. Ein Schatz liegt in dem Backsteinhaus, das Material vielstimmigen Denkens und Sprechens.

Wie hypnotisiert trete ich auf die Straße. Ich war seit langer Zeit die erste Besucherin. Vor fast zehn Jahren holte eine Ausstellung des Detlefsen-Museums den Chinesischen Zirkel aus dem Vergessen, fotografierte Candida Höfer die Maschinen als Objekte einer abgeschlossenen Vergangenheit, ein Film widmete sich dem Gedächtnisort. Heute denken die Besitzer daran, aus der Druckerei ein Event-Hotel zu machen, denn das Erbe lastet schwer und teuer auf der Familie. Nach der kurzen Renaissance versank die Druckerei wieder im Dornröschenschlaf. Zum hundertjährigen Jubiläum der Universität wäre es doch ein Projekt, wenn Studierende die Bibliothek anständig archivierten oder angehende Kulturmanager eine Fundraising-Kampagne erarbeiteten, um das Material zu erschließen und konservatorisch aufzubereiten.

Das hübsche Glückstadt hat viele und noch mehr Gründe, des Heinrich Augustin zu gedenken. Um den Betrieb in Kriegszeiten über Wasser zu halten, sicherte er sich exklusiv alle Druckaufträge der Kriegsmarine – genug, um seine Angestellten weiter zu beschäftigen. Er zweigte heimlich Papier ab und druckte 1945 auf diesen gehorteten Papierbeständen der Marine als Erstes eine Goethe-Ausgabe. Im Nationalsozialismus war der Drucker deutschnational gesinnt, doch viel zu sehr in der Vielzahl der Kulturen beheimatet, um Antisemit zu sein. Jimmy Ernst, Sohn des Malers Max Ernst und der Publizistin Lou Straus, konnte bei Augustin ab 1935 eine Lehre als Schriftsetzer machen und unter dem Schutz des Hauses im zunehmend antisemitischen Glückstadt leben. Augustins Sohn, Johannes Jakob war homosexuell. Sein Vater half ihm 1936 nach New York zu emigrieren, wo er eine Verlagsabteilung aufbaute und universitäre Kontakte knüpfte. In Glückstadt wurden in den vierziger Jahren mithin gleichzeitig Aufträge der Kriegsmarine und die neuesten Arbeiten US-amerikanischer Ethnologen und Anthropologen gedruckt.

Wie abenteuerlich das Leben der Glückstäder Portugiesin Sara da Silva auch gewesen sein mag, am 8. April 1651 hat sie diese Erde in der Hoffnung auf ein besseres Leben verlassen. Ihr Grabstein liegt auf dem jüdischen Friedhof, der an der Pentzstraße nur schwer zu finden ist. 1941 ließ der Bürgermeister Wilhelm Vogt alle 164 Grabsteine wegtragen und auf der Kegelbahn der Gaststätte Hoffnung stapeln. Steinmetze durften sich am Material bedienen. Über den Gräbern, auf dem Friedhofgelände, richtete man eine Bezirksabgabestelle für Obst und Gemüse ein. 1945 befahl der britische Colonel Goldberg, die übrig gebliebenen einhundert Grabsteine wieder auf dem Friedhof abzulegen. Die Schändung des Friedhofes bekam Jimmy Ernst nicht mehr mit. Drei Jahre zuvor hatte Heinrich Augustin ihm ein Visum für die USA besorgt und er war wie Johannes Augustin nach New York emigriert, wo er später Maler wurde.

Vom Friedhof schlendere ich noch zum Binnenhafen und esse mit Blick aufs Wasser ein ausgezeichnetes Matjesbrötchen. Ein Gimel aus dem phönizischen Alphabet liegt schwarz und miniklein in meiner Hand.

lückstadt.