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Wurstigkeit dieser Tage überdrüssig wollen wir an diesem Wochenende eine Auszeit nehmen. Aber wir sind wählerisch. Eine bescheidene und doch aparte Gegend soll es sein, eine Region ohne Städtemarketing und ohne Instagram-Account. Das Unscheinbarste, was wir im Schulatlas in erreichbarem Radius finden, ist ein Dreiländereck. Graue Buchenstämme stehen in den Himmel, wo Hessen, Bayern und Baden-Württemberg aneinandergeraten. Nach seinen Legenden und Oden wurde dieser große, stille, hügelige Wald benannt, und natürlich sind wir neugierig, was uns bevorstehen, was uns unter die Füße und vor die Augen kommen mag. Dass der Legendenstrudel seltene Dinge und echte Demokraten anzieht, das haben wir nicht erwartet.
Ein nahezu endloser Spätsommer geht seinem Ende zu. Das Waldlicht hat einen warmen Ton angenommen, und die Luft zeichnet die Konturen schon etwas schärfer. Orange und Rot frischen erschöpftes Grün auf. Amorbach liegt hier, Walldürn mit dem Blutwunder, Mudau und Mosbach. Wanderer gehen zwischen Bäumen einher und zur Hauptwallfahrtszeit pilgern Katholiken über Lichtungen. Unser Ziel am Abend ist das Städtchen Buchen, welches wir nicht für seine angenehme Normalität ausgesucht haben, die uns gleichwohl auf sympathische Weise umfängt. Eigens für das Hotel Prinz Carl sind wir angereist. Gelb und ganz historisch-gediegen hockt es am Bürgersteig, benachbart von Fachwerkhäusern, dem Stadttor und einer munteren apokalyptischen Mariensäule. Der freundliche Empfang im Hotel wischt eine kleine Angespanntheit nicht weg, denn auch solch einnehmende Zuvorkommenheit war nicht unser ursprüngliches Motiv für die Hotelauswahl. Doch scheint alles in guter Ordnung, mit dem Schlüssel zu einem Egon Eiermann-Zimmer in der Hand biegen wir wenige Minuten später aus der trutzigen Landdiele ins lichte, heitere Treppenhaus des Anbaus.
Das Zimmer gibt mir unmittelbar ein Gefühl dafür, was in der richtigen Welt da draußen sonst fehlt: Vereinfachung, elegante Proportionen, Linienführung, funktionale Klarheit und Handwerkskunst. Mein Blick streift über filigrane Möbel aus Douglasienholz, transparente Jalousien, klug konzipierte Einbauten, im Detail präzise und dabei von warmer Helligkeit. Man spürt an diesen Klinken und Schranktüren die Verbundenheit des Gestaltenden mit der Idee des Werkbundes. Die Dinge schlagen unvermutet eine Brücke in die frühen zwanziger Jahre, nach Weimar. Ich sitze auf dem Bett und fühle mich in eine bessere Variante der Gegenwart katapultiert. Mitte der sechziger Jahre plante Eiermann diesen Anbau und entwarf auch die Möbel. Ihm ging es immer um Präzision und Logik. Das klingt nach abstrakten, ja unterkühlten Arbeiten, doch seine Möbel und Häuser strahlen eine Leichtigkeit und Transparenz aus, die im analytischen Denken wurzeln, und die Genauigkeit der großen Geste vorziehen. Kein Wunder, dass seine gestalterische Position aus internationaler Perspektive in Einklang gebracht wurde mit dem politischen Impetus der jungen Bundesrepublik. Aber mehr noch, als dass dieses Wissen mich bewegt, ist es ein Hochgefühl der Stimmigkeit, das mich erfasst. Was für ein hinreißende Erinnerung daran, was Kunst und Demokratie können, ist dieses Hotelzimmer. Und auf einmal erinnere ich mich auch daran, welcher Moment mich auf immer fürs Monumentale verdorben hat: Ich war ein Kind, Anfang der siebziger Jahre, als mein Vater im schmalen Anzug mich in sein neues Büro mitnahm. Im Renault 5 fuhren wir nach Frankfurt-Niederrad. Im Olivetti-Hochhaus, das auf einem weißen Bein stand, durfte ich mich im schwarzen geschwungenen Bürostuhl drehen und die Sonnensegel vor der Skelettfassade einstellen. Aus luftiger, schattiger Höhe sah ich auf die klotzige Bürostadt und wusste ab da, wie sich Denken und Arbeiten richtig anfühlt.
Die Geschichte des Hotels reicht ins 16. Jahrhundert zurück. Das lässt sich in der prächtigsten und ausführlichsten Chronik nachlesen, die je in einem Hotelzimmer auslag. Den Namen hat Prinz Karl II. August Pfalzgraf bei Rhein und Herzog von Pfalz-Zweibrücken gegeben, dessen K sich unterwegs in ein vornehmeres, womöglich französisches C verwandelte. Eine äußerst zwielichtige Figur, so viel ist gewiss. Ein despotischer, finsterer Verschwender, ein tyrannischer Zukurzgekommener. »Hundskarl« wurde er geschimpft, weil er teure Jagden veranstaltete, gründlich gehasst von seinen Zeitgenossen wie auch später von badischen Demokraten. Den filigranen Eiermann-Schreibtisch und eine seiner frühen Zeichnungen des Stadtturms im Blick, frage ich mich, warum das Hotel bloß diesen Namen trägt. Die Bilder könnten es gewesen sein, beschließe ich endlich und greife nach dem Strohhalm, den Wikipedia mir reicht, denn es ist gleich Zeit zum Abendessen: Im Prunkschloss des fiesen Carl/Karl baute der Maler Johann Christian Mannlich für ihn eine ausgezeichnete Gemäldesammlung auf, die später einen der Grundstöcke der Münchener Pinakothek bildete.
Wir finden uns im Restaurant des Prinzen Carl ein. Eine alte Gaststube mit schönen Proportionen. In gehörigem Abstand zueinander stehen wenige Tische im Raum und wir dürfen uns an einer handwerklich erstklassigen Küche erfreuen, die das herrliche Versprechen der wohlklingenden Worte auf der Speisekarte wie Kapaun, Bubenspitzle, Kohlrabi-Carpaccio und geselchte Schweinebäckle zu unserer Freude geschmacklich einlöst.
Während ich am nächsten Morgen vom Parkplatz aus die Gliederung der Fassade betrachte, die vorgehängte Struktur aus Holz, die die Außenwand in einen Zwischenraum verwandelt, fällt mir auf, dass das hölzerne Stangenwerk schon ein bisschen abgewatzt ausschaut. Bauhäusliche Musealisierung ist nicht das Problem des Prinzen Carl. Aber wie kam es eigentlich, dass der in den sechziger Jahren berühmte Architekt, der prestigeträchtige Bauaufträge bearbeitete, diese kleine Chose angenommen hat? Wie geht die Geschichte von Eiermann und Buchen? Zwei Kapitel hat diese Beziehung, eines, das Hotelkapitel, handelt von herzlicher Dankbarkeit, das andere von Not, von kreativer Energie und unbeirrbaren ästhetischen Positionen.
Egon Eiermann hatte 1942 sein Architekturbüro von Berlin nach Beelitz verlegt und dort nach den Bombardierungen Großberlins ein Ausweichkrankenhaus für die Beelitzer Heilstätten erbaut. Im April 1945 besetzte die sowjetische Armee Beelitz-Heilstätten, in den Kämpfen brannte das Büro aus. Ich stelle mir vor, wie der Architekt, der vor und auch während des Krieges Gewerbebauten entworfen hatte, ohne Dach und Arbeit im Brandenburgischen steht und sich etwas einfallen lassen muss. Er geht los, flieht zu Fuß nach Buchen im Odenwald, in die Geburtsstadt seines Vaters. Die alten Verbindungen halten: Er findet Unterschlupf in einem Zimmerchen unter dem Zwiebeldach des Stadtturms und beginnt wieder zu arbeiten. Die Hoteliers des Prinzen Carl beluden den Korb, den der Sohn der alteingesessenen Buchener Familie mittags an einem langen Seil hinunterließ, mit Essen aus dem Hotelrestaurant. So steht diese Rapunzel-Geschichte jedenfalls in der Hotelchronik geschrieben. Ich blicke an dem mittelalterlichen Turm mit der achteckigen Dachkonstruktion hoch und glaube sie nicht. Das ist zu hoch und zu wackelig, selbst für patente Architekten und zupackende Dienstmädchen.
Heinrich Magnani war seit 1935 Pfarrer in Hettingen, der kleinen Nachbargemeinde von Buchen. Auf alten Fotos sieht man einen kompakten Menschen mit einem klaren, freundlichen Gesicht. Der Verhaftung durch die Gestapo war er 1943 nur knapp entkommen. Sein Verständnis von Seelsorge umfasste soziale wie caritative Aspekte und war von zupackendem Pragmatismus. 1945 gründete er die Notgemeinschaft Hettingen, um die Ostflüchtlinge mit dem Nötigsten zu versorgen und die Bevölkerung zur Mitarbeit zu mobilisieren. Magnani bat Eiermann um einen Entwurf für die Siedlungshäuser. Um den Bau zu finanzieren, gründete der Pfarrer das genossenschaftlich organisierte Siedlungswerk Hettingen, für das man Anteilsscheine zeichnen konnte. Das taten Buchener Bürger, die katholische Kirche, Egon Eiermanns Schwester, die in die USA ausgewandert war und das Projekt ihres Bruders unterstützte, sowie die Flüchtlinge selbst, die den Betrag in Arbeitsstunden ableisten konnten.
Glücksfall, Zufall – aus der wirtschaftlichen und sozialen Notsituation entstand durch die Zusammenarbeit von Magnani und Eiermann ein Entwurf von großer kultureller Bedeutung. Man muss den Vergleich mit der tristen, sparsamen Einfalls- und Lieblosigkeit der Container-Unterkünfte heute gar nicht bemühen, um in Hettingen zu erkennen, was für eine grundlegend neue architektonische und soziale Lösung Eiermann in der krassen Mangelsituation von 1946 erdachte. Er arbeitete mit einer Programmatik, die der Moderne verpflichtet war, die soziale Integration und Mitverantwortung als ästhetische Aufgabe begriff, die auf nachhaltige Wertbeständigkeit und urbane architektonische Qualität setzte und sie an die Würde des Menschen band.
»Der Bedarf ist so ungeheuer, dass kein neues Gebäude für Jahrzehnte frei sein wird. Darin liegt eine große Verantwortung der Menschheit gegenüber, die ein Heim, aber keine Baracke, keine Kaserne und keine Hundehütte haben soll, wenn der Wert demokratischer Staatsform, das Lebensrecht und die Erhaltung des Individuums neu geschaffen und bewahrt werden soll.« (Egon Eiermann: »Vortrag über die Planung von Wohnhäusern, gehalten bei der Caritas-Tagung der Diozöse Freiburg in Hettingen am 23.5.46« Abschrift aus dem Nachlass Eiermanns)
Schon ein Jahr später wurde Egon Eiermann als Professor an die Technische Hochschule Karlsruhe berufen, wo er bis zu seinem Tod 1970 lehrte und als freier Architekt arbeitete. Berühmt und emblematisch für die transparente Moderne der jungen Demokratie wurden die Firmenzentrale von Neckermann und die Olivetti-Hochhäuser in Frankfurt, das Kanzleigebäude der Deutschen Botschaft in Washington, das Abgeordneten-Hochhaus des Bundestages in Bonn, die Deutsche Pavillongruppe zur Weltausstellung in Brüssel, die IBM-Hauptverwaltung in Stuttgart sowie der Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Beigesetzt ist Egon Eiermann im Grab seiner Großeltern auf dem Buchener Friedhof, doch das haben wir ausgelassen.
Samstagvormittag im Städtchen, die Fassaden leuchten, als wären sie in Florenz aufgewacht. Ein dezentes Schild lädt zum Stadtmauerrundweg ein. Gepflegt und irgendwie sympathisch in seiner Solidität aus Fachwerk, Schmiedeeisen und Hoflinde ist das Anwesen der ehemaligen Amtskellerei, an der wir vorbeikommen. Amtskeller trieben im 18. Jahrhundert für die Kurmainzischen Fürsten Geld- und Naturalabgaben ein. Der Vater des Komponisten Joseph Martin Kraus, des »Odenwälder Mozart«, hatte diese Position in Buchen inne, ähnlich wohl einem Landrat.
1777 hielt sich Mozart in Mannheim auf, gab den Kindern des Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz Musikunterricht, glänzte mit Konzerten und nörgelte in seinen Briefen nach Salzburg Ende November über die stimmliche Leistung der beiden alten, etwas gerupften Kastraten der Sängerriege. Insgesamt jedoch waren Monsieur erfreut über die Qualität der exzellenten Musiker. Da hatte der junge Kraus das Musikseminar der Stadt schon verlassen und war nach Göttingen gegangen.
Ein übler Verleumdungsprozess trieb die Familie Kraus von 1775 an fast in den finanziellen Ruin und definitiv ins soziale Abseits. Der Amtskeller wurde denunziert, vom Dienst suspendiert, man beschuldigte ihn der Bestechlichkeit und Untreue, der Sohn musste sein Jurastudium unterbrechen und für ein Jahr nach Buchen zurückkehren. Die Verfahren gegen seinen Vater wurden später eingestellt, aber da war es um Joseph Martin Krausens Obrigkeitstreue und seinen Glauben in die Rechtsprechung schon geschehen. Er verfasst einen »flammenden Protest gegen mißbrauchte Fürstenmacht«, will dem Mainzer Kurfürsten nicht mehr dienen. Ende November 1777 schreibt er an seine Eltern, ehe er einem Despoten die Füße lecken müsse, wolle er lieber darben. Er bricht das Jurastudium ab und widmet sich fürderhin in Schweden sehr erfolgreich dem Komponieren.
Da heute weder Mittwoch noch Sonntag ist, bleiben Museum und schmiedeeisernes Tor vor dem kopfsteingepflasterten Hof, auf dem Joseph als junger Mensch hochbegabt herumlungerte, geschlossen. Dass Götz von Berlichingen auf eben diesem Hof 1525 die Führung des Hellen Lichten Haufens im Bauernkrieg übernahm, lerne ich vom Schild am Zaun. Der Helle Lichte Haufen, das waren fast 12.000 Bauern, die gegen die Bischöfe von Mainz und die Kurfürsten der Pfalz zogen und sich gegen Armut, Zölle, Zinsen, Steuern, Großzehnt, Leibeigenschaft und Frondienst erhoben.
Nach Göttingen war Joseph Martin Kraus gegangen. Der junge Mann war ja schon von Buchen nach Mannheim gegangen, um dort eine ordentliche Schulausbildung und Musikunterricht zu bekommen. Zu Fuß? frage ich mich, als wir ins Auto steigen und über gewundene Straßen und durch schattige Kurven Richtung Neckartal fahren. Von Buchen nach Mannheim sind es 83 Kilometer. Herr Campe erfand in seinem famosen Wörterbuch für die französische »Chaussee« ein neues Wort: Kunststraße. Die Kunststraßen im Badischen zählten neben den hessischen und kurpfälzischen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den besten des Landes. Die Fürsten von Leiningen ließen die Chaussee von Mosbach nach Buchen als Haupt-Commerzial- und Poststraße ausbauen, während Goethe noch den riesigen Erfolg seines Götz von Berlichingen genoss und den lamentablen Zustand der Straßen rund um Weimar beklagte, die kein Fortkommen erlaubten und die Beförderung der Post nahezu unerträglich verzögerten. Tief gefurchte, schlammige Wege statt befestigter Schotterstraßen. Seit 1776 im Staatsdienst und Direktor des Wegebaus, kümmerte sich der Geheime Legationsrat Goethe nun um die Infrastruktur im Sächsischen. Der junge Kraus wurde wohl ordentlich durchgerüttelt in der Postkutsche der Thurn und Taxis, schaffte die Strecke auf anständiger Kunststraße aber in zwei Tagen.
Wir sind in einer Stunde im hellen Mannheim und parken am Friedrichsplatz vor der neuen Kunsthalle. Metallgewebe umschließt ein quaderförmiges Ensemble von Kuben und Baukörpern. Wir wundern uns nicht, als Erstes Eduard Manets »Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko« zu sehen, die malerische Auslöschung des Pathos schlechthin. Doch da die Rheinebene zu einer ganz anderen Legendenabteilung gehört, endet die Ausfahrt in den Odenwald im Museumsfoyer, wo Alicja Kwades Stein-Uhr-Pendel seinen eigenen geheimnisvollen Rhythmus erschafft.
Hotel Prinz Carl, Buchen
http://www.prinz-carl.de | T. 06281 52690 | DZ ab 90 Euro