Wo ist Ihr Bett?
Wo soll es sein?
Im Gleichmaß verschwindet die Zeit. Gleichmaß ist Treibsand für Konturen, im Treibsand einer Pandemie verschwindet Erinnerung. Was habe ich vorgestern gemacht? Was im Juni? Der Oktober ist in körniges Vergessen gerutscht, November, Dezember hinterher. Es macht mir Angst, wie die Tage durch mich hindurchrinnen. Beim Spazierengehen: nahtlose Gegenwart, Wahrnehmungssplitter, diffuses Fernweh. Memories are made of this. Ich unterhalte mich mit meinen Gedanken, ich unterhalte den Strom der Gedanken, die meisten vergesse ich, manche behalte ich.
Die mittlere Spazierrunde führt zu Hagenbeck, wo Stefan Balkenhols Bronzeskulptur einer Giraffe am Eingang steht. Acht Meter hoch, an ihren Hals klammert sich ein Mann. Sehr freundlich und luftig, die beiden. Halten Ausschau und sind uns weit voraus Richtung Himmel. Neulich forderte jemand die Entfernung der Skulptur. »Wegen systemrelevantem Alltagsrassismus«. Weil schwarzer Mann auf Giraffe. Der Künstler empfahl, die nach Jahren oxidierte Bronze einfach mal zu putzen. Die Kulturbehörde sofort: Rassismus hat in unserer Stadt keinen Platz.
Keinen eigenen Platz auf jeden Fall. Ich kenne keinen Platz des Rassismus. Doch es gibt den Alfred-Beit-Weg, die Godeffroystraße und den Woermannstieg. Die Reederei Woermann wickelte während des Herero-Aufstandes die Militärtransporte nach Namibia ab. Ob Woermann und die anderen Reeder die Hagenbeckschen Völkerschauen in der Deutschen Kolonialgesellschaft besprachen, wo sich wohlhabende Kaufleute und einflussreiche Bürger trafen? Das Wort »Kolonialgesellschaft« schlägt, während ich weitergehe, einen Funken zurück in einen Sommer vor Corona, ich habe vergessen, in welchen.
Ich verbrachte zwei Nächte in einem Hotel im Unterfränkischen, in Marktbreit am Main. Vorbildlich wird die Geschichte des traditionsreichen Hauses mit langen Texten und historischen Fotografien präsentiert. Ich schlafe in dem Zimmer, in dem einst König Ludwig I. nächtigte. Ich schlafe, er nächtigte. Im Fürstenzimmer. Ausgesprochen schön. Es gibt kein Foto von den Wandgobelins und den Stuckmalereien, dafür aber die Schwarzweiß-Aufnahme einer Karte von 1911: die Einladung zum Festmahl im Hotel anlässlich des 90. Geburtstags seiner Königlichen Hoheit Luitpold von Bayern. Und wer hat die Party ausgerichtet? Die Deutsche Kolonialgesellschaft, Abteilung Marktbreit. Ein ehemals wohlhabendes Städtchen,
das sieht man den barocken Bürgerhäusern, den bemalten Gauben und der Hafenanlage noch an. Tagelöhner schufteten noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts in dem wuchtigen Tretradkran am Fluss, liefen wie Hamster in riesigen Rädern, mit denen die Ketten zur Verladung der Güter bewegt wurden. Kaffee und Gewürze.
Stir carefully through the days. See how the flavor stays.
Natürlich weiß ich, dass in der richtigen Welt diese Dinge nicht zusammenhängen. Es gibt keine Linie, die vom Woermannstieg in die Ochsenfurter Straße führt, von Reedern zu Ärzten und quer durch die Jahrzehnte. Doch im ruhigen Gleichmaß meines Raums lassen sich Dinge bei mir nieder, zufällig, ungerufen, beiläufig, und werden sichtbar. In einer anderen Ordnung ist nichts vergessen, es ist alles da und miteinander in Berührung.

Knapp zweihundert Meter spaziere ich vom Hotel in die Ochsenfurter Straße 15 in Marktbreit. Alois Alzheimer wurde 1864 in diesem Haus in eine große Familie hineingeboren. One man, one wife. One love, through life. Memories are made of this. Jahrzehntelang war er, einer der beiden großen Söhne der Stadt, völlig in Vergessenheit geraten. Ein Pharmaunternehmen, das Alzheimer-Medikamente vertreibt, hat es nun als Gedenkstätte hergerichtet. Hier liegt die Akte der Auguste Deter in einer Faksimile-Ausgabe. 1901 behandelte Alzheimer die schwer verwirrte Patientin in der Städtischen Anstalt für Irre und Epileptiker in Frankfurt. Handschriftlich protokollierte er die Gespräche mit ihr, aus denen auch der später berühmt gewordene Satz stammt: »Ich habe mich sozusagen verloren.« Some grief, some joy. Memories are made of this. 1904 stellte Alzheimer seine Beobachtungen auf der Versammlung der Irrenärzte in Tübingen vor: Der Fall Auguste D. Nun wollte es der Zufall, dass auch C. G. Jung auf der Tagung war und einen aufsehenerregenden Vortrag über die junge Psychoanalyse hielt. Neben seinem glanzvollen Auftritt wurde Alzheimers Arbeit nur am Rande zur Kenntnis genommen.
Im selben Jahr – 1904 – kam der zweite Sohn von Marktbreit, Otto Hellmuth, in die Schule. Ein tüchtiger Junge, der später Zahnmedizin studierte und in seiner Geburtsstadt eine Praxis eröffnete. Und wie er Karriere machte: mit 23 Jahren schon fanatischer Gauleiter, mit 24 rief er öffentlich zur Lynchjustiz an Juden auf, agitierte vehement und machte sich durch antisemitische Aktionen einen Namen. Als NSDAP-Regierungspräsident ließ er 1940 hunderte psychisch kranker Patienten aus der Heil- und Pflegeanstalt in Werneck ermorden.
1945 ist die Geschichte nicht zu Ende. Der Verurteilung zum Tode durch den amerikanischen Militärgerichtshof entging er, da sich der Würzburger Bischof für den Katholiken Otto Hellmuth einsetzte. 1955 aus dem Gefängnis entlassen, erhielt er eine Haft-Entschädigung von 5.160 Mark. 1958 ließ sich Hellmuth als Zahnarzt nieder. Die AOK erteilte ihm und nicht einem der 21 Mitbewerber die Zulassung für alle Kassen, weil er die älteste Approbation vorweisen konnte. These are the dreams you will savor. With His blessings from above. Er liegt auf dem Friedhof von Marktbreit begraben.
Ich wünschte, ich könnte das vergessen. Aber die Geschichte ist mein blauer Elefant und lotet als Senkblei meinen Grund aus. Weil ich mir die Welt nicht vorstellen kann, in der das passiert ist, und doch weiß, das sie einfach nur gewöhnlich war, weil sich diese Wirklichkeit meiner Vorstellungskraft entzieht wie ein Schwarm silbriger Fischlein, der das Maul des Raubfischs blitzend und wie ein Schleier im Windhauch geschmeidig flieht, schaue ich noch einmal die historischen Fotos des Hotels durch.

Eine Aufnahme fühlt sich nach Nachkriegszeit an. Die Frisuren, das Moped, der Eisstand vor dem Hoteleingang. Kinder in Sonntagskleidchen stehen Schlange. Und neben dem Torbogen ein Filmplakat an der Hauswand. Man sieht eine dramatisch geschminkte Schauspielerin, dunkel gekleidet. Die Aufnahme strahlt eine bedrohliche Atmosphäre aus, die zu dem hellen Tag in Marktbreit nicht passen will. Ich vergrößere und ziehe Schärfe nach, starte Bildersuche und durchforste Filmarchive. Ich kann den Film nicht finden und mir selbst die Frage nicht beantworten, warum ich das Foto nicht vergesse. Don’t forget a small moonbeam. Fold it lightly with a dream.
Eigentlich habe ich aufgegeben. Aber dann, mit dem Mut der Verzweifelten, schreibe ich dem Leiter des Filmarchivs im Filmmuseum Frankfurt: Haben Sie vielleicht eine Idee? Minuten später hat er die Antwort für mich: Sybille Schmitz in »Die letzte Nacht«. In dem Drama spielt sie eine französische Résistance-Kämpferin, die im Keller Flugblätter druckt. »Wie lange werden Menschen noch dulden, dass Menschen sterben, weil Menschen es wollen« steht drauf. Der Film war ein totaler Flop an den Kinokassen. Sybille Schmitz war vor dem Krieg ein UFA-Star, Goebbels strich sie wegen ihrer Bisexualität und ihrem ungermanischen Aussehen von den Besetzungslisten. Im Nachkriegsdeutschland bekam sie kaum noch große Rollen. Depression, Alkohol- und Morphiumsucht bestimmten ihre letzten Jahre. 1955, in dem Jahr als Otto Hellmuth aus der Haft entlassen wurde, nahm sie sich das Leben.
Bei Hagenbeck steige ich in die U-Bahn und fahre zum Stephansplatz. In dem neoklassizistischen Gebäude, vor dem ich jetzt stehe, war früher das Esplanade-Theater, das vornehmste und anspruchsvollste Kino der Stadt. Im großen Saal wurde 1949 »Die letzte Nacht« uraufgeführt.
Der Sommertag im Unterfränkischen hat zu mir aufgeschlossen. Viele Tage und leere Wochen übersprungen. Aber ich stehe vor diesem Gebäude nicht im Treibsand, sondern befinde mich im Kreuzungspunkt von Zeitfäden und Stadtspuren. In mir kreuzen sie sich. Ich stehe ganz gut. Im Sommer 1982 wurde das Esplanade geschlossen. Im Februar hatte »Die Sehnsucht der Veronika Voss« in Berlin Uraufführung. Vielleicht war Veronika Voss im Frühjahr noch im Programm des Esplanade. Fassbinder liebte die Schauspielerin Sybille Schmitz und erzählt in dem Film fiktionalisiert ihre Geschichte. One man, one wife. One love, through life. Memories are made of this. Dunkel, hingebungsvoll und voll gebrochener Traurigkeit singt Rosel Zech als Veronika Voss den Dean Martin-Song. Begleitmusik für meine vergessenen Tage.